UNTERTASSEN Himmlische Zeichen
In unserem Luftraum werden bei Tage und bei Nacht Objekte beobachtet, die sich mit keinen bekannten meteorischen Erscheinungen vergleichen lassen«, schreibt der schweizerische Psychologe Carl Gustav Jung in seiner neuesten wissenschaftlichen Arbeit, die im vergangenen Monat gleichzeitig in der Schweiz und in Deutschland publiziert wurde. »Es sind keine Meteore, keine Verwechslungen mit Fixsternen, keine Spiegelungen an Temperaturinversionen, keine Wolkenfigurationen, keine Zugvögel, keine Luftballons, keine Kugelblitze und - last, not least - keine Betrunkenheits- und Fieberdelirien, noch Lügen der Augenzeugen. Was in der Regel gesehen wird, ist ein anscheinend glühender oder in verschiedenen Farben feurig strahlender Körper von runder, scheibenförmiger oder kugeliger, seltener auch von zigarrenförmiger beziehungsweise zylindrischer Gestalt verschiedener Größe.«
Was der 82jährige Seelenforscher, einer der prominentesten Psychologen der Welt, mit diesen Worten beschreibt, gilt als eines der umstrittensten Massen-Phänomene der Nachkriegszeit: die fliegenden Untertassen, von denen die Wissenschaft trotz Einsatz von modernsten Luftüberwachungstechniken noch immer nicht weiß, ob es sich um rätselhafte außerirdische Flugkörper oder um eine nicht minder rätselhafte Massen -Narretei handelt. In seiner Arbeit, die als Buch mit dem Titel »Ein moderner Mythus"* zu populärem Preis erschienen ist, unterbreitet Jung eine überraschende neue Deutung der »Fliegenden Untertassen«.
Seit 1947 hatte Seelenarzt Jung in seinem Küßnachter Heim alle erreichbaren Veröffentlichungen über die mysteriösen Erscheinungen gesammelt, die von einem Untersuchungsausschuß der US-Luftwaffe offiziell als »Unidentified Flying Objects« (Unidentifizierte Flugobjekte, abgekürzt: Ufo) bezeichnet werden. Da nach diesen Berichten auch viele ernst zu nehmende Personen - Flugkapitäne, Wissenschaftler, Radartechniker - verblüffende Ufo -Flugmanöver beobachtet und gemessen haben wollen, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen nicht vereinbar sind, schloß Jung, daß das Ufo-Phänomen »auch eine wesentlich ins Gewicht fallende psychische Komponente besitze«.
Zur Deutung dieser psychischen Komponente griff der schweizerische Seelenexperte auf die von ihm selbst entwickelte Version der Tiefenpsychologie zurück, die er in Auflehnung gegen seinen Lehrmeister Sigmund Freud in den letzten fünf Jahrzehnten entwickelt hat. 1912 hatte sich der Dr. med. Carl Gustav Jung, damals Oberarzt an der Zürcher Nervenklinik »Burgehölzli«, mit 'dem Begründer der Tiefenpsychologie überworfen. Jung war überzeugt - im Gegensatz zu Sigmund Fred -, daß dem Sexualtrieb und den Sexualerlebnissen nicht eine alles überragende Bedeutung für seelische Vorgänge zukomme.
In seiner eigenen Version der Tiefenpsychologie postulierte der Pfarrersohn Jung, das unbewußte Seelengeschehen des Menschen werde von zeitlosen Urbildern ("Archetypen") beherrscht, die seelisches Eigentum der gesamten Menschheit seien. Jung und seine Schüler glaubten, diese symbolischen Leitbilder bei der Erforschung von Mythen und Träumen sowie der pseudowissenschaftlichen Schriften von Alchimisten und Astrologen entdeckt zu haben.
Als 1947 die ersten Ufo-Sichtungen gemeldet wurden, erinnerte sich Seelenforscher Jung an eigene Traumvisionen von Sonnen, die vom Himmel herunterstürzten, und versuchte den Archetypus aufzuspüren, der solchen »Ufo-Erscheinungen« zugrundeliegen könne. Als ihm dann Patienten von Träumen berichteten, in denen Tiefsee-Ufos fischgleich umherschwammen oder silbrig schimmernde bemannte Scheiben durch den Himmel zogen, machte Jung sich daran, mit den Mitteln der Traumdeutung den Bedeutungsgehalt der Ufo-Erscheinungen zu entschleiern.
Er studierte mittelalterliche Zeichnungen von seltsamen Himmelserscheinungen und Gemälde abstrakter Maler, auf denen Ufoähnliche Gebilde zu sehen waren. Bei diesen Studien kam er zu dem Ergebnis, »daß in meinen Beispielen übereinstimmend ein als zentral bekannter Archetypus, den ich als das Selbst bezeichnet habe, sich manifestiert«.
Unter diesem Archetypus des Selbst versteht Jung das Ganzheitssymbol einer Vereinigung des Menschen mit Gott. Er schreibt: »Im Westen lebend müßte ich statt 'Selbst' Christus sagen, im Nahen Osten etwa Chadir, im Fernen Osten etwa Atman oder Tao oder Buddha und ... in der Kabbalistik Tifereth*«. Die Ufo-Zeichen, die Träumer und Maler in ihren Bildern produzieren, werden nach Jungs Ansicht als vom Himmel gesandte Zeichen empfunden, die runden Scheiben als Gottesaugen gesehen.
Er glaubt deshalb, daß viele der Ufo -Sichtungen eng verwandt sind mit religiösen Kollektivvisionen »zum Beispiel der Kreuzfahrer bei der Belagerung von Jerusalem ... der gläubigen Volksmenge von Fatima ... etc.«. Der schweizerische Seelenexperte meint darüber hinaus auch aus eigenen Erfahrungen mit den Mitgliedern spiritistischer Zirkel schließen zu dürfen, daß bei solchen Visionen voll zurechnungsfähige Menschen mit gesunden Sinnen Dinge wahrnehmen, die nicht existieren.
Die Ursache für das Auftreten solcher Visionen sieht Jung in der dem Psychologen geläufigen Erscheinung der »Projektion«. In diesem Vorgang werden unbewußte Wünsche, Sehnsüchte und Vorstellungen in ein Objekt »hinausverlegt«, was sich in einem konkreten Fall beispielsweise darin äußern kann, daß jemand anderen Menschen die Schuld an seinen eigenen Verfehlungen aufzubürden sucht.
Jung glaubt nun, daß »in der Bedrohlichkeit der heutigen Weltsituation, wo man einzusehen anfängt, daß es ums Ganze gehen könnte«, die projektionsschaffende Phantasie Ufo-Erscheinungen an den Himmel projizieren könnte. Unter diesen Umständen, meint Jung, sei es kein Wunder, daß auch moderne, skeptisch-nüchterne Menschen von Gesichten heimgesucht würden und Fliegende Untertassen am Himmel erspähten: Die von den Untertassen-Visionen befallenen Menschen erhofften sich unbewußt ein »überirdisches Ereignis«, das die vom Atomselbstmord bedrohte Menschheit vor dem Untergang bewahre und aus der Ausweglosigkeit des Atomzeitalters erlöse.
Die Phantasie der Untertassensüchtigen hatte jedoch keineswegs nur geheimnisvolle Flugkörper an den Himmel projiziert. In Amerika hatte ein Mr. George Adamski Hunderttausende mit seinem Bericht fasziniert, daß er auf Einladung einer Untertassen-Besatzung in wenigen Stunden eine Rundfahrt um den Mond gemacht habe.
Phantasien dieser Art, in denen die Ufos mit superintelligenten Krallengeschöpfen, Zwergen, Termiten, Marsbienen oder Riesen bemannt sind - Adamski schilderte wortreich seine Begegnungen mit »einem engelgleichen, sportlichen Weltraumjüngling« - hält Jung für eine weitere Projektion, bei der die jetzt erwachenden Weltraumaspirationen der Menschheit auf fiktive Untertassler projiziert werden, die ausgerechnet im zwanzigsten Jahrhundert dem Planeten Erde ihre Besuche abstatten.
Daß solche Geschichten von Hunderttausenden geglaubt werden, ist nach Jungs Meinung »eine Gelegenheit zu sehen, wie eine Sage entsteht, und wie in einer schwierigen und dunklen Zeit der Menschheit eine Wundererzählung von einem versuchsweisen Eingriff oder wenigstens einer Annäherung außerirdischer 'himmlischer' Mächte sich bildet«.
Obwohl Jung in seiner Untertassenstudie versichert, es handele sich bei den Ufo -Erscheinungen um »eine derartig eindrucksvolle Legende, daß man sie sozusagen 99prozentig als psychisches Produkt zu werten ... sich versucht fühlt«, schließt er die meistdiskutierte Möglichkeit nicht aus: daß die Ufos tatsächlich außerirdische Flugkörper sein könnten.
Im Schlußkapitel seines Buches erwägt er die Theorie, daß die seelischen Inhalte, die von den Untertassensüchtigen auf die Untertassen projiziert werden, sich möglicherweise doch auf etwas Reales beziehen. Jung meint, die Ufos könnten durchaus »reale stoffliche Erscheinungen« sein, »Wesenheiten unbekannter Natur, die, vermutlich aus dem Weltraum kommend, vielleicht schon seit langen Zeiten den Erdbewohnern sichtbar waren, aber sonst keinerlei erkennbaren Bezug zur Erde oder deren Bewohner haben«.
Aber selbst wenn es sich bei den Fliegenden Untertassen tatsächlich um Flugkörper handele, sagt Jung, seien seine psychologischen Thesen gültig. In dem Augenblick nämlich, »wo sich die Blicke der Menschen nach dem Himmel richten, einerseits wegen ihrer Phantasien einer möglichen Raumschiffahrt, andererseits, figürlich, wegen ihrer vital bedrohten irdischen Existenz«, hätten sie Inhalte des Unbewußten auf die unerklärlichen himmlischen Phänomene projiziert und ihnen damit »eine Bedeutung gegeben, die sie gar nicht verdienen«.
* C. G. Jung: »Ein moderner Mythus - Von Dingen, die am Himmel gesehen werden« Rascher-Verlag, Zürich und Stuttgart; 122 Seiten; kartoniert 8,40 Mark.
Chadir: Fischartiges Symbol der Wiedergeburt aus dem Koran; Atman: In der indischen Philosophie die Allseele als Urgrund des Seins; Tao (chinesisch): Bahn, Weg; göttliche Vorsehung in der Lehre des Lao-tse; Tifereth (hebräisch): Schönheit, göttliche Ausstrahlung.
»Fliegende Untertassen« auf einem Basler Flugblatt (1566): Eine Gelegenheit zu sehen ...
Untertassen-Psychologe Jung
... wie eine Sage entsteht