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FORENSIK Hinweis auf Hunger

Der Fall einer Wachsleiche in der Berliner Charité hat einen Gelehrtenstreit ausgelöst. Handelt es sich um Rosa Luxemburg?
aus DER SPIEGEL 53/2009

Mit knapper Botschaft meldete sich vergangene Woche das Amtsgericht Tiergarten, Abteilung 351, in der Berliner Charité: »Beantragte Leichenobduktion wird angeordnet«, ließ der zuständige Richter wissen.

Die medizinische Leichenöffnung gilt einer anonymen Toten, die freilich seit langem von niemandem mehr vermisst werden dürfte. Die Betreffende verstarb laut Radiokarbondatierung vor etwa 90 Jahren, sagt der Chef der Berliner Rechtsmedizin, Michael Tsokos. Seit Jahrzehnten liegt der Körper ohne Kopf, Hände und Füße im Keller der Charité. Durch hohe Feuchtigkeit und mangelnden Sauerstoff war das Körpergewebe schon vor langer Zeit zu einer sogenannten Fettwachsleiche geronnen.

Nun soll der Leichnam endlich bestattet werden. Doch weil dessen Identität ungeklärt ist, hat sich die Berliner Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Um Hinweise auf die Herkunft der Toten zu erhalten, musste Tsokos den inzwischen zerfallenden Corpus am Brustkorb aufsägen. Der Rechtsmediziner hat in den vergangenen zwei Jahren allerdings ohnehin kaum eine Untersuchungsmethode ausgelassen, um herauszufinden, wer die rätselhafte Tote ist.

Diverse Indizien trug Tsokos zusammen. Im Mai dieses Jahres sorgte er dann mit

der Vermutung für Aufsehen, dass es sich bei der Heimgegangenen um die 1919 er-

mordete Revolutionärin Rosa Luxemburg handelt (SPIEGEL 23/2009).

Gesichert ist, dass die Tote etwa so groß war wie die rote Ikone und wie diese unter einem Hüftschaden litt. Nun hat Tsokos den Leichnam von Kollegen des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie durchleuchten lassen.

Die Wissenschaftler entnahmen Proben aus Rippe, Leber, Schienbein und Knochenmark, um diese mit der sogenannten Isotopenmethode zu untersuchen. Mit dem Verfahren lassen sich Aussagen über Ernährungsweise und Aufenthaltsort von Verstorbenen treffen. Die Messdaten passen »qualitativ zu dem uns bekannten Lebenslauf von Rosa Luxemburg«, resümierten die Experten.

Offenkundig war die Verstorbene aus Tsokos' rechtsmedizinischer Sammlung zu Lebzeiten ähnlich viel unterwegs wie die kleingewachsene Sozialistin: »Die deutliche Variation der Strontium- und Bleikonzentration in den verschiedenen Geweben passt zu längerfristigen Orts- beziehungsweise Ernährungswechseln«, befinden die Forscher. Luxemburg, 1871 im polnischen Zamosc geboren, floh 1889 noch als Abiturientin vor der zaristischen Polizei nach Zürich. 1898 übersiedelte die Aktivistin schließlich nach Berlin.

Hohe Konzentrationen von Stickstoff und Schwefel in den Gebeinen des Leichnams deuten die Wissenschaftler aus München als Beleg für einen »relativ hohen Konsum an tierischen Produkten«. Eine Völlerin allerdings war die Frau wohl nicht, im Gegenteil: Erhöhte Stickstoffwerte »im Rippenkollagen können auf Hungereffekte (etwa während einer Inhaftierung) zurückzuführen sein«, heißt es in der Analyse der Wissenschaftler. Auch dieser Befund deckt sich mit dem Schicksal der einst ermordeten Kommunistenchefin, die während des Ersten Weltkriegs mehr als drei Jahre hinter Gittern verbrachte.

Die Spurensuche an dem jahrzehntealten Leichnam hat derweil einen heftigen Gelehrtenstreit entfacht. Vor allem Volkmar Schneider, Tsokos' Vorgänger als Direktor am Institut für Rechtsmedizin der Charité, wähnt seinen Nachfolger »von allen guten Geistern verlassen«.

»Wie mein Nachfolger mit den beiden Obduzenten Rosa Luxemburgs, den Professoren Strassmann und Fraenckel, umgeht, ist schon dreist«, erregte sich Schneider in einem Brief an den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin. Zweifel am historischen Obduktionsprotokoll waren die Grundlage für Tsokos' Verdacht gewesen, die wahre Rosa sei womöglich nie begraben worden. Nach Ansicht Schneiders hat Tsokos mit dieser kühnen These dem Ansehen der Rechtsmedizin »schweren Schaden« zugefügt.

Nun kündigt der Pensionär seinerseits ein Buch über die Causa Luxemburg an. Tsokos wundert sich: »Wenn alles Schwachsinn sein soll, warum will er dann darüber schreiben?«

Schneider wirft Tsokos derweil vor, er habe wichtiges Beweismaterial unterdrückt, etwa eine Speichelprobe und mehrere Locken einer Großnichte Luxemburgs, die in Israel lebt.

Tsokos behauptet jedoch, dass sich die Asservate als völlig unbrauchbar erwiesen hätten. Marion Nagy von der Abteilung Forensische Genetik der Charité mochte die Proben erst gar nicht untersuchen. »Bei einer Großnichte sind die Verwandtschaftsverhältnisse viel zu weit auseinander, als dass man verlässliche Aussagen bekommen könnte«, sagt sie.

Zudem wurde die Haarprobe nach Ansicht der Charité handwerklich unsauber entnommen: Die Luxemburg-Nachfahrin hatte sich die Haarbüschel mit einer Schere selbst abgeschnitten. Ohne Haarwurzel jedoch, so Nagy, seien genetische Aussagen jedweder Art unmöglich. FRANK THADEUSZ

* Mit Rechtsmediziner Michael Tsokos.

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