STRAHLEN-SCHÄDEN Hohe Schwelle
Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth las deutschen Medizinern die Leviten: Wenn Ärzte, aus Sorge vor Strahlengefährdung des Ungeborenen, schwangeren Frauen zur Abtreibung rieten, so sei das »weder mit der ärztlichen Ethik vereinbar noch unter irgendeinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen«.
Die starken Worte der Ministerin waren die Reaktion auf eine neue Variante der in der Bundesrepublik grassierenden Strahlenfurcht: Viele Schwangere ängstigten sich - nach dem Super-GAU im 1300 Kilometer entfernten Sowjet-Reaktor - um die Gesundheit ihrer ungeborenen Kinder.
Bei Frauenärzten und genetischen Beratungsstellen meldeten sich in den Tagen und Wochen nach dem Unglück Tausende von besorgten Frauen. Informationsveranstaltungen, ob in München oder Berlin Hals über Kopf organisiert, waren bis auf den letzten Platz besetzt.
Doch auch die Helfer konnten nur gut zureden. Wissenschaftliche Erkenntnisse, so hatten sie schon zuvor in der Presse mitgeteilt, besäßen auch sie nicht. Die Angst der Frauen um ihre Kinder sei »massiv da«, berichtete eine Pro-Familia-Mitarbeiterin aus Berlin, »aber wir konnten ihnen nur sagen, daß wir im Grunde auch nichts wissen«. Selbst Ärzte gaben meist nur weiter, was sie aus den Medien erfahren hatten.
Überraschend ist das nicht. Ob und welche Gefahren den Ungeborenen durch radioaktive Strahlung drohen, ist noch immer weitgehend unerforscht. Knapp 100 Jahre nach der Entdeckung daß radioaktive Substanzen der Gesundheit schaden können, wissen Mediziner nur wenig darüber, was Radionuklide im Körper von Embryonen und Föten bewirken.
Dennoch gaben Ende vorletzter Woche Ärzte und Strahlenschützer allgemein Entwarnung. Wie die Gesundheitsministerin verkündete Bundesärztekammer-Präsident Karsten Vilmar ("auf Empfehlung des Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission"), daß von der erhöhten Radioaktivität keine Bedrohung für die Kinder im Mutterleib ausgehe.
Bestätigt wird diese Einschätzung von den meisten Strahlenmedizinern an westdeutschen Kliniken. Für die Leibesfrucht der Frauen bestehe »keinerlei Gefahr«, versichert der Hamburger Radiologe Professor Hanns-Peter Heilmann. »Erst die Dosis macht das Gift«, beruhigt Professor Helmut Ernst, Nuklearmediziner in Berlin, und warnt eindringlich vor unüberlegtem Handeln: »Auf gar keinen Fall abtreiben«
Wenn es stimmt, was Mediziner, beispielsweise in Bayern, festgestellt haben, dann war die Strahlenbelastung für die Kinder im Mutterleib weit unterhalb jeder Gefahrenschwelle. Nur vier bis sechs Millirem, so der Münchner Strahlenspezialist Professor Hans Werner Pabst, habe die zusätzliche radioaktive Belastung, vor allem ausgelöst durch radioaktives Jod 131, betragen. Sie war, laut Pabst, mithin niedriger als die bei etwa 30 Millirem liegende Schwankung der natürlichen Radioaktivität im Freistaat.
Es sei »furchtbar, was da an Hysterie getrieben« werde, erklärte Professor Erich Oberhausen, Vorsitzender der Strahlenschutzkommission beim Bundesinnenministerium, und versicherte von einer Gefährdung der Ungeborenen sei man »meilenweit entfernt«. Radiologe Heilmann gab den Kollegen Mitschuld: »Die meisten Ärzte«, verurteilte er Panikmeldungen, »haben von Strahlung keinen Schimmer«.
Allerdings lassen neuere Erkenntnisse der Wissenschaftler die Ängste der werdenden Mütter zumindest verständlich erscheinen. Gesichert ist etwa, daß Kinder während der Entwicklung im Mutterleib auf Strahleneinwirkungen insgesamt empfindlicher reagieren als der Organismus von Erwachsenen.
In einer vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Studie ("Wirkungen nach pränataler Bestrahlung") wird außerdem ein erhöhtes Krebsrisiko konstatiert: Bei gleicher Strahlendosis, so ermittelten die Autoren, sei die »Rate der malignen Erkrankungen« bei den Ungeborenen um den »Faktor zwei bis drei« höher, als wenn die Strahlung erst nach der Geburt auf das Kind einwirkt.
Dagegen wissen die Mediziner bis heute so gut wie nichts darüber, ob radioaktive Strahlen schon bei Embryonen und Föten Veränderungen im Erbgut hervorrufen können.
Bestimmte, während der Schwangerschaft eingenommene Medikamente, auch das schafft Unklarheit können die Wirkung ionisierender Strahlen noch verstärken. So ist bekannt, daß beispielsweise Antibiotika und östrogenähnliche Stoffe Strahlenschäden vergrößern können.
Nach bisher gängiger Meinung setzen die Mediziner die Gefahrenschwelle relativ hoch an. Grund zum Schwangerschaftsabbruch besteht nach ihrer Ansicht erst dann, wenn das Kind im Mutterleib von einer Strahlendosis zwischen
zehn und 20 rem getroffen wird. Besonders empfänglich, so fanden sie bei dieser Gelegenheit heraus, ist das Ungeborene für die Strahlen in der Frühphase der Schwangerschaft: vom achten bis zum 42. Tag, jener Zeitspanne, in der sich die Organe des Kindes bilden.
Die Folgen einer so hohen Strahlendosis (zum Vergleich: Bei einer, mittlerweile als ärztlicher Kunstfehler eingestuften Röntgenaufnahme vom Becken der werdenden Mutter treffen 0,23 rem auf den Uterus) sind detailliert beschrieben. Danach verdoppelt sich, bei einer Strahlung von 20 rem, die natürliche Mißbildungsrate von 1,5 auf drei Prozent, bei den zur Welt Kommenden würden sich, mit zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit, Strahlenschäden diagnostizieren lassen.
Doch auch mit diesem Wert wird nur eine mehr oder weniger willkürliche Grenze gezogen. An echte Schwellen ist die Aktivität strahlender Partikel im Körper der Ungeborenen offenbar nicht gebunden, wie auch der Münchner Internist Friedrich Ernst Stieve in einer Arbeit über »Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch nach Einwirkung ionisierender Strahlen«, feststellt. In Finnland, so berichtet der Wissenschaftler, würden deshalb Abtreibungen schon zwischen zwei und zehn rem erwogen - dem 500fachen der in Süddeutschland geschätzten Belastung.
Noch völlig offen ist indessen, wieviel radioaktives Material, nach Tschernobyl, über die Nahrungsaufnahme der Mütter zu den Kindern gelangen wird. In den Augen der Strahlenmediziner ist auch diese Gefahr gering. »Für den Zeitraum von einigen Jahren«, so schätzt der Münchner Nuklearmediziner Pabst, müßten schwanger werdende Frauen damit rechnen, daß ihre Ungeborenen über die Nahrungskette mit zusätzlich etwa fünf Millirem pro Jahr belastet werden.
Unbestritten ist, daß sich radioaktive Substanzen im Gewebe des Fötus stärker anreichern als im Körper der Mutter. Radioaktives Jod allerdings wird in der Schilddrüse des Embryos bis zur zwölften Schwangerschaftswoche überhaupt nicht gespeichert. Danach kann die Jod-Konzentration in der Schilddrüse des Ungeborenen die im Organ der Mutter übersteigen.
Bei der radioaktiven Substanz Eisen 59 ist die in der Leber des Kindes abgelagerte Dosis bis zum Zwei- bis Dreifachen höher als bei der Mutter.
Wieviel Strahlung über Lebensmittel aufgenommen werde, müsse sehr sorgfältig beobachtet werden, meint der Hamburger Radiologe Professor Heilmann. 1979, nach dem Reaktorunfall von Harrisburg, war nach Ansicht des, amerikanischen Strahlenphysikers Ernest J. Sternglass von der University of Pittsburgh School of Medicine genau dies versäumt worden.
Bei Untersuchungen hatte der Wissenschaftler herausgefunden, daß in den
ersten vier Monaten nach der Reaktorpanne in den von der radioaktiven Wolke überquerten Gebieten 240 Kinder mehr gestorben waren als im Durchschnitt der Vorjahre.
Auch damals hatten offizielle Stellen behauptet, die Belastung habe in der Nähe der Unglücksstelle 80 Millirem nie überschritten. Unterschätzt hatten die Entwarner dabei möglicherweise die Gefährlichkeit der mit der Nahrung in den Körper aufgenommenen Strahlung.
Sternglass - der allerdings von Kollegen scharf kritisiert wurde - war davon überzeugt, das in den Schilddrüsen der Kinder konzentrierte radioaktive Jod habe die Ausschüttung der Wachstumshormone gedrosselt.
Zu seiner These war der Wissenschaftler gekommen, als er in den Kliniken von Harrisburg und Umgebung die Kranken-Unterlagen der verstorbenen Kinder einsah: Besonders viele von ihnen, so ergab sich, waren an Atemnot und Unterentwicklung gestorben.