MEDIZIN Invasion der kindlichen Zellen
Es ist der Vormarsch einer Invasionsarmee: Aggressiv und millionenfach dringen die Zellen immer tiefer ins fremde Gewebe ein; Enzyme, die die gesamte Umgebung aufweichen, machen ihnen den Weg frei. »Es sieht wild aus«, sagt Ulrike Kämmerer von der Universitätsfrauenklinik in Würzburg.
Keine Immunabwehr stellt sich den Eindringlingen in den Weg. Denn diese tarnen sich so perfekt, dass sie für das Immunsystem des Wirts unsichtbar sind. Ja, sie bringen die Abwehrzellen durch geschickte Manipulation sogar dazu, ihnen bei ihrem Vormarsch zu helfen.
Die Rede ist nicht von einem heimtückischen Parasiten oder Tumor, sondern vom Wachstum eines menschlichen Embryos in der Gebärmutter. Etwa eine Woche nach der Befruchtung der Eizelle - meist weiß die Frau noch nicht einmal, dass sie schwanger ist - beginnt er, sich durch aggressives Vordringen in die Gebärmutter einzunisten, um aus seinen eigenen und mütterlichen Zellen gemeinsam den Mutterkuchen, die Plazenta, zu bilden (siehe Grafik).
Über dieses Organ wird das Kind etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt;
in der fertigen Plazenta steht dazu ein weitverzweigtes Gefäßnetz des Kindes in engstem Kontakt mit dem mütterlichen Blut.
Das Verrückte dabei: Obwohl sich Mutter und Kind so aufs Innigste miteinander verbinden, sind sie sich im Grunde ihres Wesens fremd. »Für das Immunsystem der Mutter«, sagt Udo Markert, Leiter des Placenta-Labors an der Universitätsfrauenklinik Jena, »ist das Kind ein Fremdkörper, wie ein Tumor, ein Parasit oder ein Transplantat.« Und Kämmerer meint: »Jedes andere Gewebe, das so fremd ist wie der kindliche Teil der Plazenta, würde in null Komma nichts abgestoßen.«
Um nicht sofort zerstört zu werden, muss der kindliche Organismus deshalb das Immunsystem der Mutter über die gesamte Schwangerschaft hinweg geschickt austricksen. Dabei haben die kindlichen Zellen eine ganze Reihe von Überlebensstrategien entwickelt - die auf verblüffende Weise jenen ähneln, die auch Tumoren, Parasiten oder Viren anwenden.
»Wahrscheinlich«, sagt Markert, »sind sich Schwangerschaft und Tumorwachstum deshalb so ähnlich, weil Tumoren oft genau jene Mechanismen des Körpers ausnutzen, die in der Schwangerschaft zur Erhaltung des Lebens entwickelt wurden.« Diese Erkenntnis hoffen die Forscher nun im Kampf gegen den Krebs nutzen zu können.
Längst erforschen Wissenschaftler deshalb die Schwangerschaft nicht mehr nur, um Erkenntnisse über den Beginn des Lebens zu sammeln. Kämmerer beispielsweise untersucht mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die »Plazentation als natürliches Tumormodell«. Und auch in Markerts Placenta-Labor interessiert man sich für die Frage, wie sich die Invasion von Embryo- und die von Tumorzellen ins Gewebe ähneln - und unterscheiden.
Die EU fördert Projekte in diesem Bereich mit fast zwei Millionen Euro jährlich. Neben neuen Krebstherapien könnten dabei auch Immunsuppressiva für Organtransplantationen herauskommen, Verfahren, die die Erfolgsrate bei künstlicher Befruchtung verbessern, oder aber Mittel, die Schutz vor den gefürchteten Schwangerschaftsvergiftungen bieten.
»Die Anfänge dieser Forschungen reichen bis in die fünfziger Jahre zurück«, erzählt Ian Sargent von der Universität Oxford. Damals erkannte der britische Transplantationspionier Peter Medawar als Erster die Schwangerschaft als einen natürlichen Zustand, in dem ein Transplantat - der Fetus - nicht abgestoßen wird. Für seine Forschungen wurde er 1960 mit dem Nobelpreis geehrt.
Inzwischen allerdings richtet sich das Interesse vor allem auf die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Plazentabildung und Tumorwachstum. So lassen sich fast sämtliche bekannten Tumormarker in erheblicher Konzentration auch in der Plazenta nachweisen; einige wurden sogar zuerst in der Plazenta entdeckt.
Zudem dringen kindliche Zellen bei der Plazentabildung nicht nur ähnlich aggressiv wie ein Tumor in die Gebärmutter ein, nicht wenige verbleiben auch nach der Geburt noch dort und können sogar, ähnlich metastasierenden Krebszellen, in die Lunge wandern. »Ich vergleiche jetzt seit zwölf Jahren Tumor- mit Plazentazellen«, sagt Kämmerer, »aber ich habe noch immer keinen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden finden können.«
So verbindet beide Arten von Zellen, dass sie Meister der Tarnung sind. Sie verwenden oft sogar denselben Eiweißstoff, um der Entdeckung durch die Körperabwehr zu entgehen: Auf der Zelloberfläche präsentiert, gaukelt dieser dem Immunsystem vor, es handele sich um körpereigene Zellen.
Die Plazenta lässt die Armada der Immunzellen sogar für sich arbeiten - ebenso wie es auch viele Tumoren machen. Beide können das Immunsystem dazu bringen, wachstumsfördernde Substanzen für sie zu produzieren, insbesondere solche, die die Bildung von Blutgefäßen fördern. Selbst die Invasion der kindlichen Plazentazellen in die Gebärmutter, stellte Markert fest, wird mit Hilfe der gleichen Botenstoffe gesteuert wie das Vordringen von Tumorzellen ins Gewebe.
Doch warum hört eine Plazenta auf zu wachsen, wenn sie etwa ein Drittel der Gebärmutterwand durchdrungen hat - ein Tumor jedoch nicht? »Woran das liegt«, sagt Kämmerer trocken, »würden wir alle gern wissen.« Denn vielleicht ergäbe sich daraus dann ein Weg, auch das Wachstum eines Krebsgeschwürs zu stoppen.
Erschwert wird die Arbeit der Plazentaforscher jedoch dadurch, dass sie ihr Organ immer nur innerhalb bestimmter Zeitfenster untersuchen können. Die Mutterkuchen von normal geborenen Kindern stehen ihnen für ihre Forschung im Überfluss zur Verfügung, auch die Plazenten Frühgeborener und - nach Genehmigung durch eine Ethikkommission - solche abgetriebener Embryonen und Feten sind ihnen zugänglich. Die Phase der Implantation selbst jedoch können sie nur indirekt untersuchen.
Dabei ist gerade dieser Zeitraum nicht nur für die mögliche Entwicklung einer Krebstherapie besonders interessant, sondern auch für die Frage, wie sich die Behandlung ungewollt kinderloser Paare mittels künstlicher Befruchtung (IVF) verbessern ließe. Schon jetzt bieten viele IVF-Kliniken verschiedene Fruchtbarkeitstests oder sogar Therapien an, die auf immunologischen Prinzipien beruhen. »Alle diese Verfahren sind bislang jedoch noch unausgereift, teilweise sogar richtig unseriös«, sagt Sargent. »Da geht es vor allem ums Geld.«
In Zukunft jedoch, sagt er, könne die Plazentaforschung durchaus zuverlässige Tests und Therapien sowohl für Unfruchtbare wie auch für Schwangere hervorbringen. Bei der Entstehung der lebensgefährlichen Schwangerschaftsvergiftung etwa, so fand der Reproduktionsmediziner heraus, ist das Zusammenspiel der kindlichen Plazentazellen mit den Immunzellen der Mutter gestört. Dadurch werden die Blutgefäße in der Plazenta und im Körper der Mutter geschädigt. Die Folge: Das Kind bleibt im Wachstum zurück, die Mutter leidet unter Ödemen, Eiweißausscheidung im Urin und Bluthochdruck, und es drohen lebensgefährliche Krampfanfälle.
Derzeit arbeitet eine Reihe von Firmen daran, einen Test zur Früherkennung der Schwangerschaftsvergiftung zu entwickeln. »Obwohl die Krankheit in der Regel erst in der fortgeschrittenen Schwangerschaft offensichtlich wird, wissen wir jetzt, dass die Frauen ihr Schicksal möglicherweise vom Anfang der Schwangerschaft an in sich tragen«, sagt Sargent. VERONIKA HACKENBROCH
* In der achten Schwangerschaftswoche.