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Wetter Jäger auf der Sturm-Pirsch

Mit Urgewalt schlagen die Tornados zu - und verschwinden in wenigen Minuten wieder. Vom Einsatz neuer Meßtechniken versprechen sich amerikanische Experten Aufschluß über Entstehung und Struktur der Wirbelstürme. Das Hollywood-Erfolgsduo Spielberg/Crichton ("Jurassic Park") machte daraus einen Wissenschafts-Thriller.
aus DER SPIEGEL 26/1996

Der braunschwarze Rüssel streckt sich wie der Stachel eines Skorpions aus der von Blitzen durchzuckten Gewitterwolke. Im 80-Stundenkilometer-Tempo fegt das dunkle Gebilde durch ein sattgrünes Maisfeld, kreuzt eine Landstraße, dann eine Farm mit Ställen und Wasserspeicher.

Kurze Zeit später ist der Spuk vorbei - doch eine knapp zwei Kilometer breite Schneise der Zerstörung bleibt zurück. Was sich darin befand, ging in die Luft: Bäume und Antennenmasten, Kühe und Hühner, das dreistöckige Farmhaus und ein Tanklaster, der beim Rücksturz auf die Erde in einem Flammenball zerbirst.

So stellt Hollywoods Special-effects-Guru Steven Spielberg die gewaltige Wirkung eines Tornados dar - in dem Film »Twister«, der Anfang September in deutschen Kinos anläuft. Das Drehbuch stammt von Bestsellerautor Michael Crichton: Auf der Suche nach einem Tornado, der in diesem Landstrich Twister genannt wird, rollen eine Truppe von TV-Leuten sowie ein bunter Haufen von Meteorologen und Twister-Fans in Chevy-Vans und Wohnmobilen über die Feldwege im amerikanischen Mittelwesten - die einen, um die Sturmböen in packende Bilder zu verwandeln, die anderen, um wissenschaftliche Instrumente möglichst nahe am Tornado-Rüssel zu plazieren.

Die kugeligen Sonden von der Größe eines Tennisballs, von Windkraft emporgetragen, sollen über die enormen Kräfte Aufschluß geben, die dem Wirbelsturm seine zerstörerische Gewalt verleihen.

»Die Handlung ist Blabla, die eingesetzten Instrumente sind meist veraltet, aber sonst stimmt so ziemlich alles«, sagt Joshua Wurman, Meteorologe an der University of Oklahoma in Norman, über den Wissenschafts-Thriller.

In keinem anderen Land werden Tornados so intensiv erforscht wie in den USA. Experten des National Severe Storms Laboratory in Norman, eine halbe Stunde südlich von Oklahoma City, haben Computerprogramme eingerichtet, welche die Entstehung und den Verlauf der Wirbelstürme simulieren.

Als Grundlage dienten meteorologische Meßwerte. Temperaturen, Luftfeuchtigkeit und Windgeschwindigkeiten werden in verschiedenen Schichten der Atmosphäre registriert, in denen sich Tornados bilden und voranbewegen. Festinstallierte Doppler-Radaranlagen liefern Hinweise auf Geschwindigkeit und Richtung der hochgewirbelten Objekte in unmittelbarer Nähe des Rüsselzentrums. Gemessen werden aber auch Wassertröpfchen und Hagelkörner, einige von ihnen tennisballgroß, die in der Unwetterwolke zu Boden peitschen.

Verwertet werden darüber hinaus Filmaufnahmen und Beobachtungen, die inzwischen in großer Zahl vorliegen: Hunderte von sogenannten Twister-Chasern haben es sich zum Freizeitsport gemacht, auf die gefahrvollen Naturerscheinungen regelrecht Jagd zu machen. In der Tornado-Saison vom 15. April bis zum 15. Juni nehmen sie »eine Auszeit, um ihrem Hobby nachzugehen«, sagt Wurman. Er selber zählt sich auch zu »diesem Chaser-Volk«.

Zehn Tornados hat Wurman in diesem Jahr mit dem »Doppler on Wheels« (DOW) gejagt. Zwei Twister habe er »eingefangen und vermessen«. Der DOW aus dem Fuhrpark der Universität ist ein Truck, auf dessen Ladefläche eine Radarschüssel neuester Bauart angebracht ist. Meßgeräte und Computer befinden sich in einer Kan- zel hinter dem Führerhaus; Kosten der Jagdausrüstung: 300 000 Dollar.

Mit einem derartigen Aufwand kann der typische Amateur-Chaser nicht mithalten. Er läßt sein Fernsehgerät während der Saison 24 Stunden pro Tag auf den Wetterkanal eingestellt. Vom Internet lädt er sich Wettervorhersagen und -analysen meteorologischer Institute von amerikanischen Universitäten auf seinen Laptop.

Sobald dann die Meteorologen in den angrenzenden Gebieten der »Tornado Alley«, die vor allem die Staaten Oklahoma, Kansas, Texas und New Mexico abdeckt, einen Zusammenstoß warmfeuchter Luftmassen vom Golf von Mexiko und kalttrockener Luft aus nordwestlicher Richtung vorhersagen, gehen die Wetter-Jäger auf die Pirsch: Diese Großwetterlage macht die Entstehung eines Tornados wahrscheinlich.

Ausgestattet mit Laptop, Satelliten-Empfangsgerät zur Ortsbestimmung, einem Stapel Land- und Straßenkarten, Funk- und Radiogerät und einer Videokamera, starten die Chaser zu Ausflügen über Hunderte von Kilometern.

»Es ist jedesmal ein Trip ins Ungewisse«, erläutert Wurman, »die Trefferquote

liegt durchschnittlich nur bei etwa zehn Prozent.« Wenn es ihnen gelingt, einen der gefürchteten Tornado-Rüssel - mal näher, mal aus der Ferne - aufs Videotape zu bannen, ziehen die Twister-Chaser hochbefriedigt wieder ab.

Zwar werde ein Haus in Oklahoma »wahrscheinlich nur einmal in 240 Jahren von einem Tornado getroffen«, stellt Meteorologe Wurman klar. Doch die Tatsache, daß etwa tausend dieser Verwüstungsstürme jedes Jahr durch die Tornado Alley fegen - kein Land wird von mehr Stürmen vergleichbarer Urgewalt bedroht als die USA - , mache verständlich, daß so viele Neugierige den Naturgewalten nachspüren. Und erst recht erkläre es den enormen Aufwand für die wissenschaftliche Erforschung dieses Wetterphänomens.

Sie begann Anfang der siebziger Jahre mit dem Einsatz von Doppler-Radaranlagen. Diese Geräte ermöglichten es, die Vorwarnzeit für Tornados von 3 auf mittlerweile 35 Minuten auszudehnen. Allerdings war bis vor kurzem die Anzahl der Fehlalarme hoch - sie lag zwischen 50 und 70 Prozent.

»Einen Riesenschritt nach vorn« erblickt Wurman in dem Projekt »Vortex«, das in den vergangenen drei Tornado-Saisons in den US-Staaten Oklahoma, Texas und Kansas erprobt wurde.

Alle paar Tage rückten Vortex-Wissenschaftler mit ihren Gerätewagen aus, um Twister zu jagen. Insgesamt fingen sie zehn Tornados ein; in vielen Fällen konnten sie sich dem Sturmtrichter bis auf eine Entfernung von knapp zwei Kilometern nähern. »Dies ist eine Distanz«, so Wurman, »die gerade noch groß genug ist, um sich mit durchgetretenem Gaspedal in Sicherheit zu bringen, wenn der Rüs- sel auf die Position der Forscher zu- schwenkt.«

Bei den Rendezvous mit den Wirbelstürmen konnte Wurman erstmals auch die von ihm entwickelten »Schildkröten« ausbringen: entengroße Mini-Plattformen, die mit Bleiplatten beschwert sind und Geräte zur Messung von Windgeschwindigkeit, Luftfeuchtigkeit und Temperatur enthalten. Im Idealfall werden sie so plaziert, daß der Tornado direkt über sie hinwegwirbelt.

»Die bei Vortex erzielten Daten sind besser als alle Erkenntnisse, die wir in den letzten drei Jahrzehnten gewonnen haben«, resümiert Peter Hildebrand vom National Center for Atmospheric Research in Boulder (Colorado). Sein Kollege Jerry Straka, Meteorologe von der University of Oklahoma, mahnt aber zur

Vorsicht: »Vortex hat uns gleichzeitig höllisch verwirrt.« Dabei geht es um die bislang noch umstrittenen Theorien über die Entstehung der kuriosen Luftwirbel (siehe Grafik Seite 156).

Offen bleiben, wie auch Meteorologe Wurman konstatiert, »fundamentale Fragen« über die Struktur der Tornados: Strömen die Luftmassen im Rüsselzentrum nach oben oder nach unten? Befinden sich im Rüssel kleinere Wirbel, die den Hauptwirbel verstärken? Bleibt die Struktur stabil, oder verändert sie sich jeweils innerhalb von Sekunden?

Als größtes Rätsel bezeichnen die Tornado-Forscher die Frage, weshalb einige große Gewitterformationen schwache Tornados produzieren, andere da- gegen starke und wieder andere gar keine.

Wenn dieses Puzzle gelöst würde, stünden die Forscher allerdings schon vor dem nächsten. »Warum«, grübelt Wetterforscher Wurman, »löst sich der Tornado- Rüssel nach etwa zehn Minuten in harmlose Luft auf?«

[Grafiktext]

Modell für die Entstehung eines Tornados

[GrafiktextEnde]

* Am 9. Mai in Beatrice (Nebraska).* Mit fahrbaren Doppler-Radargeräten.

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