(K)ein Diskurs über »lebensunwertes Leben«!
Franz Christoph, 35, freier Autor in Hamburg, ist Mitbegründer der westdeutschen Krüppelbewegung.
Eine gefährliche Illusion findet seit Jahren immer mehr Anhänger. Der perfekt gesunde Mensch gilt mehr und mehr als höchste Stufe der Lebensqualität. Die alltäglichen und nicht mehr zu verschweigenden Umweltkatastrophen fördern die Sehnsucht nach »einem gesunden Körper in einem gesunden Geist«. Weil Behinderte diese neuen Zeitgeistkriterien nicht erfüllen, entstand eine neue Qualität von Behindertenverachtung: Behinderte sind heute Abschreckungsmodell, das Gegenbild zum Gesundheitsideal. Sie werden dazu benutzt, um vor den Schrecken eines möglichen Atomkrieges oder vor Umweltschädigungen zu warnen.
Da ist es nur selbstverständlich, wenn die Betroffenen sich wehren. Doch der organisierte oder individuelle Protest von Behinderten wird, selbst in liberalen Kreisen, als nicht ganz ernst zu nehmende Übersensibilität der Betroffenen abgetan.
Dabei ist er notwendiger denn je, seitdem es Mode ist, über Sterbehilfe und Schau-Selbstmorde zu debattieren. So zum Beispiel während des Rehabilitationskongresses »Rehab '88« in Karlsruhe. Öffentlich sollte da die Frage behandelt werden, ob Sterbehilfe eine Alternative zu Rehabilitation sein könne. Aber als Behinderte die Bühne besetzten, um den »Meinungsstreit um das Lebensrecht« zu verhindern, hielten die Veranstalter den Betroffenen »Intoleranz« vor. Die Aktion wurde als Meinungsterror einer kleinen Minderheit verstanden. Daß es sich hier um eine durchaus legitime Notwehraktion von Menschen handeln könnte, die ihr Lebensrecht nicht öffentlich in Frage gestellt sehen wollten, kam den Verantwortlichen der »Rehab '88« nicht in den Sinn.
Immerhin, die Aktion von Karlsruhe hat erreicht, daß die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, eine auf die Tötung von Menschen (auf Wunsch) spezialisierte Sterbehilfe-Organisation, kritischer unter die Lupe genommen wurde. Bei öffentlichen Debatten über Sterbehilfe waren allerdings Betroffene fortan nicht mehr gern gesehen. Die Pro- und Contra-Debatte zum Thema Sterbehilfe wird nun lieber als »Expertenthema« abgehandelt, in »emotionsfreier, sachlicher Atmosphäre«.
Einen dieser »Expertenstreits« wollte diese Woche die »Internationale Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung« veranstalten. Den Rahmen sollte ein Symposion »Gesundheit 2000 - Lebens-Perspektiven von Menschen mit geistiger Behinderung« in Marburg abgeben.
Eingeladen war ursprünglich auch der Australier Peter Singer, Professor der Philosophie in Clayton, Victoria (Australien) und Direktor des dortigen Centre for Human Bioethics. Singer gilt als internationale Kapazität in Fragen »neue« Ethik - grundsätzlich müsse man von einer Gleichheit von Mensch und Tier ausgehen, vertritt der engagierte Tierfreund, und ganz zeitgeistgemäß entwickelte der 44jährige »New Age«-Ethiker die theoretischen Grundlagen für solche Gedanken: die Wertschätzung von Leben müsse sich am Vorhandensein von »Personalität« und »Selbstbewußtsein« orientieren - dies verlange eine neue Grenzziehung, da es sowohl Tiere mit diesen Merkmalen gäbe als auch Menschen, denen sie fehlten. Seiner Logik nach schlußfolgert Singer:
Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht . . . Infantizid und insbesondere die Tötung behinderter Kinder durch Nahrungs-/Therapie-Entzug oder Medikamente ist zulässig.
Als durchaus vertretbar empfindet dies auch der Dortmunder Behindertenpädagoge Professor Christoph Anstötz. Auch er lud den Australier an seine Hochschule. Im Fachbereich 13 (Sondererziehung und Rehabilitation) der Universität Dortmund wurde ein Gastvortrag Singers mit dem Titel »Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben?« angekündigt. Anstötz' Rechtfertigung:
Ethische Positionen wie die von Peter Singer sind vor allem deswegen in eine kritische Diskussion geraten, weil sie von uns fordern - und zwar mit einsichtigen Gründen -, daß wir bestimmte ethische Prinzipien revidieren, nach denen wir bisher zu entscheiden gewohnt waren. Gemeint sind etwa Grundsätze, die unseren Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen rechtfertigen, wenn wir sie zu Forschungs- und Ernährungszwecken verwenden. Gemeint ist aber auch unsere Auffassung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens. Die Frage des Vortrags, »Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben?«, ist provokativ und berührt den Lebensnerv einer Pädagogik für Schwerstbehinderte. Aus geschichtlich verständlichen Gründen ist diese Frage aber in unserem Lande bisher nicht gestellt worden.
Geht es nach Anstötz und den Planern des Marburger Symposions »Gesundheit 2000« (Schirmherrin: Bundesgesundheitsministerin Ursula Lehr), dann müssen die Fragen endlich gestellt - und beantwortet werden.
Anders sehen dies die Kritiker der Veranstaltungen in Dortmund und Marburg, die sich spontan zu einem Bündnis zusammengefunden haben. Für sie sind Peter Singers Thesen schlicht ein Aufruf zum Mord. Den Vorwurf der unverantwortlichen Übertreibung lassen sie nicht auf sich sitzen. Weshalb auch?
In bezug auf jede andere Gruppe von Menschen wäre die These Singers in Gefahr, als faschistisches Gedankengut abgelehnt zu werden - ohne wissenschaftlichen Diskurs. Eine Veranstaltung, die sich mit dem Lebensrecht neugeborener Frauen oder Ausländer beschäftigen wollte, hätte - berechtigterweise - einen öffentlichen Proteststurm zur Folge und würde als Universitätsthema mit der Intervention der zuständigen Minister rechnen müssen. Und auch die Familienministerin in Bonn würde sich hüten, eine Schirmherrschaft zu übernehmen, wenn es nicht um geistig Behinderte ginge.
In diesem Zusammenhang ist die Einladung des Australiers nur die Spitze des Eisbergs, der im Gewand einer neuen »Bio-Ethik« daherkommt. Das geplante Symposion wäre nicht weniger als der erneute Versuch, die Lebenswertigkeit von Behinderten in Frage zu stellen. Das ist auch den Veranstaltern klar. Denn makabrerweise ist das Konzept des Symposions in der Bundesgeschäftsstelle der »Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte« ausgebrütet worden, dem größten Selbsthilfeverband von Eltern geistig behinderter Kinder in der Bundesrepublik.
Auf die Frage, ob hier nicht eine Euthanasie-Diskussion geplant sei, meint dessen Sprecherin Therese Neuer-Miebach: »Doch, natürlich! Das ist ja der Kern der wissenschaftlichen Diskussion, die im Moment geführt wird.« Und selbstverständlich hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe ein anderes Verständnis des Problems als Professor Anstötz aus Dortmund, der nach eigenen Worten nach einer »rationalen Begründung für das Lebensrecht Behinderter« sucht. Dennoch organisiert und initiiert der Verband einen »aktuellen Meinungsstreit«, der genau dem entgegensteht und fragwürdig erscheinen läßt, was Neuer-Miebach beteuert: »Wir haben eine ganz klare Meinung dazu. Das ist für uns, daß der Lebenswert behinderten Lebens überhaupt nicht und in keinster Weise in Frage gestellt werden kann und darf.«
Die Kritik an ihrer Veranstaltung mag die Lebenshilfe-Sprecherin einfach nicht verstehen. Man wäre ja nicht »blauäugig« an diese Thematik herangegangen, die ja überall schon diskutiert würde: »Wir gehen mit einer dezidierten Gegenposition in eine derartige Auseinandersetzung.«
Wahr ist daran, daß die Euthanasie-Diskussion in vielen Ländern schon viel weiter fortgeschritten ist als bei uns. Aber eben deshalb müssen wir in Deutschland uns dagegen wehren, Fragen aufzuwerfen wie »Euthanasie für schwerstbehinderte Neugeborene?«, die dann sowohl mit Ja als auch mit Nein beantwortet werden könnten. Denn gerade derartige wissenschaftliche Diskussionen und Diskurse waren Vorläufer dessen, was als Ausmerzung »lebensunwerten Lebens« vor 50 Jahren begann.
Dabei halten sich die Gegnerinnen und Gegner des Marburger Lebenshilfe-Symposions keineswegs für »blauäugig«. Vielmehr soll einfach jede Aufwertung und Legitimation der Euthanasie-Debatte verhindert werden. »Braunäugig« ist dagegen die Einladung eines Euthanasie-Propagandisten. Das jedenfalls läßt eine lockere Formulierung Professor Singers vermuten: »Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben. Ebensowenig, wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können.«
Da sind sich der »neue Ethiker« und die organisierten Lebenshelfer schon recht nahegekommen. Denn auch für die »Lebenshilfe e.V.«, so Sprecherin Neuer-Miebach, »sind die Diskussionen darüber kein Tabu mehr«.
Doch gerade wegen der historischen Erfahrung, das können die Sozial-Funktionäre wohl nicht nachvollziehen, erscheint den Betroffenen jeglicher Diskurs über die Wiedereinführung des Begriffs vom »lebensunwerten Leben« als Bedrohung ihres Lebensrechtes. Auf die Idee, daß es deshalb einem bundesdeutschen Behindertenverband gut anstünde, dem internationalen Zeitgeist etwas entgegenzusetzen, sind die Verbandsfunktionäre jedoch nicht gekommen. Man müsse vielmehr, heißt es, mit den Euthanasie-Befürwortern »eine konstruktive Auseinandersetzung führen«.
Tolerant sein ist alles.
Nicht mehr tolerieren wollten diese unsägliche Toleranz die Betroffenen und Organisationen, die zum Boykott und zur Verhinderung des Symposions der Lebenshilfe aufriefen. Das Bündnis reicht von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie über den Bundeszusammenschluß der Krüppel- und Behinderteninitiativen bis hin zu verschiedenen Studentenvertretungen und Frauengruppen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien.
»Wir können doch nicht tolerieren, wenn sie darüber reden, ob wir noch leben dürfen oder nicht«, drückte es eine Frau der Krüppelbewegung aus. »Es ist eine unglaubliche Intoleranz, wenn die Menschenwürde und Persönlichkeit von Behinderten massiv angegriffen wird, wenn die Antastbarkeit menschlichen Lebens gesamtgesellschaftlich damit noch mehr legitimiert wird.« Eine Aussage, die nicht als sensible, verständliche Betroffenheitsäußerung gewertet werden sollte, sondern als einzig legitime Antwort auf jegliche Etablierung von Pro- und Kontradebatten zum Thema Euthanasie.
Erschreckend ist, daß diese Etablierung nicht »von rechts« kommt, sondern von einem Betroffenenverband selbst. Wenn sogar eine gemeinnützige, mit staatlichen Geldern unterstützte Organisation unter dem Schutz der Familienministerin debattieren will, ob Behindertenmord ethisch gerechtfertigt sein kann, ermutigt das zwangsläufig diejenigen, die diese Frage schon längst zuungunsten der Behinderten entschieden haben.
Zur Überraschung der Organisatoren gab es allerdings schon im Vorfeld der Veranstaltungsvorhaben erhebliche Unruhe und Aufregung. Es hagelte Protestschreiben, sogar von einzelnen Landesverbänden der Bundesvereinigung.
Erst nach und nach wurde den Veranstaltern klar, daß wenigstens in der Bundesrepublik Debatten über Euthanasie für Behinderte (noch) nicht salonfähig sind. Zuerst mußten sie vorletzte Woche Peter Singer ausladen. Als Grund gab die Verbandssprecherin lediglich die Konkurrenzveranstaltung an der Dortmunder Universität an. Keineswegs gäbe es inhaltliche Bedenken, die hätten nur jene Kritiker, die einen »ethischen Rigorismus« betreiben.
Doch auch in Dortmund wurde der »Bio-Ethiker« ausgeladen, die Mehrheit des Fachbereichsrates Behindertenpädagogik hatte sich gegen die geplante Veranstaltung ausgesprochen. Die Kritik an seiner geplanten Tötungsvorlesung beantwortete Professor Anstötz mit der bedauernden Vermutung, daß »die Zeit dafür bei uns eben noch nicht reif« sei.
Derweil beharre aber die Bundesvereinigung Lebenshilfe weiterhin auf ihrem Euthanasie-Symposion, es sollte bei den Fragestellungen aus dem Gruselkabinett vergangener Zeiten bleiben: »Sterbehilfe - auch für neugeborene Behinderte?« . . . »Euthanasie und schwerbehinderte Neugeborene« . . .
Erst als klar war, daß auch die Kritiker stur bleiben und jeglichen öffentlichen und wissenschaftlichen Disput über das Lebensrecht Behinderter notfalls auch mit Demonstrationen verhindern würden, gaben die »Lebenshelfer« nach. Ende letzter Woche sagten sie ihr Symposion ab: »Wir können nicht mehr garantieren«, so die Sprecherin der Veranstalter, »daß die Diskussionen so ablaufen, wie wir sie geplant haben. Es sind ja Aktionen angekündigt worden, Gegenaktionen.« Dafür, ergänzte Geschäftsführer Bernhard Conrads, »hätten die ausländischen Gäste sicher kein Verständnis gezeigt«.
Daß sich in der Republik, längst überfällig, eine zwar noch viel zu kleine Anti-Euthanasie-Bewegung zu regen beginnt, ist erfreulich. Daß diese allerdings gezwungen ist, sich von einer Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte als »ethische Rigoristen« bezeichnen zu lassen, und gegen die Trägerschaft eines Bonner Ministeriums für pseudowissenschaftliche Sterbehilfe-Veranstaltungen ankämpfen muß, ist beschämend.