
Lauterbachs Coronastrategie Deutschlands gefährlichste Mutante


Gesundheitsminister Lauterbach am 1. März 2022
Foto:Xander Heinl / photothek / IMAGO
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»Jetzt sollte jeder versuchen, eine Infektion zu vermeiden. Selbst bei mildem Verlauf droht eine Veränderung des weiteren Lebens. Hört keiner gerne, ist aber so.« Das twittert Gesundheitsminister Karl Lauterbach am Samstag, dazu einen Artikel der »Süddeutschen Zeitung« über die »neue Volkskrankheit« Long Covid.
Leider ist es genau so, lesenswerter Artikel in @SZ. In ein paar Jahren werden wir volles Ausmass #LongCovid erkennen. Jetzt sollte jeder versuchen, eine Infektion zu vermeiden. Selbst bei mildem Verlauf droht eine Veränderung des weiteren Lebens. Hört keiner gerne, ist aber so https://t.co/nshk7hm33w
— Prof. Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) April 2, 2022
Stunden später fällt fast in der gesamten Bundesrepublik die allgemeine Maskenpflicht in Innenräumen. Maßgeblich dafür verantwortlich: jener Twitter-Warner Lauterbach.
Am Montag bedankt sich derselbe Mann dann bei Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, die in ihrem Bundesland über die sogenannte Hotspot-Regelung die Maskenpflicht beibehalten hat – als Einzige neben den Verantwortlichen in Hamburg. Lauterbach fordert andere Bundesländer auf nachzuziehen.
Danke an @ManuelaSchwesig für die Umsetzung der Hotspot Regel. Auch in anderen Ländern sollte diese geprüft und umgesetzt werden, wo die Fallzahlen die Gesundheitsversorgung bedrohen. https://t.co/7xh0sMCqM0
— Prof. Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) April 4, 2022
Kurz darauf teilt der Minister mit, dass Infizierte ab 1. Mai in der Regel nicht mehr verpflichtet sind, sich zu isolieren. Es gilt lediglich »die dringende Empfehlung«. Infizierte können ihre Keime ab dann also wissentlich und in den meisten Fällen völlig frei, weil ohne Maske, in geschlossenen Innenräumen verteilen – sie würden damit gegen keine Regeln verstoßen. Aber hey, nicht vergessen, Long Covid bleibt ein Risiko.
Lauterbachs Expertise wird zum Verhängnis
Natürlich gibt es Gründe für Lauterbachs Entscheidung, die Pflicht zur Isolation aufzugeben. Die Gesundheitsämter schaffen es ohnehin nicht mehr, Absonderungsbescheide rechtzeitig zu verschicken, letztlich ist die Kooperation der Bevölkerung entscheidend. Und trotzdem macht es einen Unterschied, ob eine Regel gilt und schlicht schwer zu überwachen ist, oder ob sie abgeschafft wird.
Das gilt insbesondere, wenn sich die Person, die die Regel lockert, in dem Themenfeld gut auskennt. So wird Lauterbach derzeit zum Verhängnis, was ihn eigentlich als Gesundheitsminister auszeichnen sollte: seine Expertise. Lauterbach ist Epidemiologe und trat vom Beginn der Pandemie an auch als solcher auf. Er erklärte und er mahnte – oft behielt er recht.
Auch deshalb kam er ins Amt des Gesundheitsministers, deshalb gönnten es ihm viele Menschen und deshalb verlassen sie sich bis heute auf sein Urteil. Und genau deshalb, ist es so gefährlich, wenn er immer wieder vom Mahner zum Lockerungspolitiker mutiert und umgekehrt.
Gift für die Vernunft
Von Lauterbach als Minister wird erwartet, dass er auf Basis seiner Expertise Entscheidungen trifft – und sich durchsetzt, spätestens wenn es wirklich wichtig ist. Das tut er aber nicht. All das Warnen und Mahnen und Bitten auf Twitter, sich als Infizierter doch freiwillig in Isolation zu begeben, Maske zu tragen und sich impfen zu lassen, alles verhallt, wenn politische Entscheidungen genau die gegenteilige Botschaft transportieren.
Während es bei fachfremden Politiken leichtfällt, verquere Entscheidungen auf Unwissen zu schieben, bleibt bei Lauterbach hängen: Nicht mal mehr der ewige Mahner und Fachmann hält Masketragen und Isolation noch für wichtig genug, um dafür gesetzliche Regelungen aufrechtzuerhalten.
Wer da seit etwa zwei Jahren vorbildlich Maske trägt, geimpft ist, sich privat einschränkt und unter widrigen Bedingungen im Homeoffice arbeitetet, zweifelt plötzlich, ob das, was er da tut, überhaupt noch eine Rolle spielt. Oder wozu er sich eigentlich die ganze Zeit die Mühe gemacht hat. Dabei bleiben Masketragen und Isolation selbstverständlich effektive Maßnahmen, um das Virus einzudämmen.
Nicht jedes Detail muss in einer Demokratie gesetzlich geregelt werden. Gesetze sind aber sehr wohl dafür da, grundlegende Regeln für eine funktionierende Gesellschaft festzulegen – und sie bieten eine Orientierung bei der Frage, was richtig ist im Miteinander und was falsch. Diese wichtige Funktion geht insbesondere und ausgerechnet aufgrund der Politik des wohl fachkundigsten Gesundheitsministers der vergangenen Jahre in der Pandemie mehr und mehr verloren.
Gesetze machen es Menschen, die sich an gesellschaftlich wichtige Regeln halten wollen, einfacher, dies zu tun. Ein infizierter Arbeitnehmer mit leichten Symptomen muss ab 1. Mai auf einen Arbeitgeber hoffen, der Verständnis dafür hat, wenn er trotzdem nicht zur Arbeit kommt. Lauterbachs Gesetze drängen jene Menschen, die sich bislang ziemlich genau nach der von Lauterbach gepredigten Evidenz verhalten, in die Defensive. Dagegen hilft auch kein Tweet.