KOSMOLOGIE Kein Weg zurück
Das bizarre Gefährt, aufgebaut im Wohnzimmer einer Londoner Villa, begann zu tanzen, als der Pilot auf ein Signal der Konstrukteure den Starthebel drückte. Bald hüllte eine Lichtwolke das schwer gebeutelte Fahrzeug ein; Sekunden später war es samt seinem aufgeregten Insassen spurlos verschwunden.
In Wahrheit rührte sich der scheinbar ins Nichts entwichene Reisende gar nicht von der Stelle: Er hatte nur die Zeit, nicht den Ort gewechselt. Im Eiltempo durchmaß er an die 30 Jahrmillionen. Dann kehrte er um und, wider die Zeitrichtung, in die Gegenwart zurück.
Acht Tage nach dem Start saß er wieder im Wohnzimmer seiner Freunde - bedrückt von der Erinnerung an die Zukunft: Am fernsten Punkt seiner Zeitreise hatte er die längst entvölkerte Erde erblickt, die im matten Licht einer dunkelroten, fast ausgebrannten Sonne dem nahen Kältetod entgegendämmerte.
In seinem Roman »Die Zeitmaschine«, erschienen 1895, hatte der britische Science-fiction-Autor Herbert George Wells jenen ingeniösen Apparat nicht näher beschrieben, mit dem es gelingt, im Sauseschritt durch Vergangenheit und Zukunft zu eilen. Doch offenbar hat die fiktive Londoner Herrenrunde ein Problem schon gelöst, mit dem sich die
wirklichen Wissenschaftler bis heute herumschlagen.
Fließt der Zeitstrom auf ewig in dieselbe Richtung, oder sind Bedingungen denkbar, unter denen er umkehrt und zurückläuft? Verstreicht die Zeit stets gleichmäßig oder läßt sie sich beschleunigen und verlangsamen? Hat sie Anfang und Ende oder bewegt sie sich endlos im Kreis? Bislang fanden die Forscher darauf nur widersprüchliche Antworten.
Wohl kein anderer zeitgenössischer Wissenschaftler hat sich gründlicher in das verwirrende Zeitproblem vertieft als der britische Mathematiker und Kosmologe Stephen W. Hawking, den Fachkollegen gern mit Albert Einstein vergleichen. Für den Professor von der Universität Cambridge stand bis vor kurzem fest, daß der »Zeitpfeil« keineswegs ewig in dieselbe Richtung weisen müsse.
Zu dieser Erkenntnis war Hawking beim Studium sogenannter Schwarzer Löcher gekommen, ausgebrannter Sternleichen, die unter dem Druck ihrer eigenen Schwerkraft zu extrem hoch verdichteten Materieklumpen zusammengeschrumpft sind. Einst, vor rund 20 Milliarden Jahren, so Hawking, sei die gesamte kosmische Materie in einem einzigen Schwarzen Loch versammelt gewesen und dann beim Urknall ("Big Bang") explodiert; seither dehne sich das Universum unablässig aus.
Die seit dem Urknall fortschreitende Expansion des Universums, meinte Hawking, bestimme unabänderlich die Richtung des Zeitstroms - bis zu jenem Moment, in dem das aufgeblähte Weltall, den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend, wieder zu schrumpfen beginne ("Big Crunch"): Von diesem kosmischen Wendepunkt an, so lehrte der Professor aus, Cambridge, werde die Zeit wie in einem Trickfilm rückwärtslaufen.
Mit dem subjektiven Zeitempfinden des Alltagsbewußtseins läßt sich dieser Gedanke kaum fassen. Doch Hawkings Theorie der Zeitumkehr stürzte auch die Fachleute in Verlegenheit. Denn die neue Lehre widersprach, beispielsweise, der Thermodynamik, einem Teil der Wärmelehre, der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, als deutsche und französische Physiker versuchten, den optimalen Wirkungsgrad etwa von Dampfmaschinen zu ermitteln.
Im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik waren die Experten zu dem Ergebnis gelangt, daß physikalische Veränderungen wie etwa die Umwandlung von Kohle in Hitze nicht umkehrbar sind, weil ein Teil der erzeugten Wärme unweigerlich und für immer verlorengeht. Ein Vorgang, der irreversibel bleibe, so erkannten die Gelehrten, könne nur in einer Zeitrichtung ablaufen.
Was für die Dampfmaschinen gelte meinten die Physiker, treffe auch für das ganze Universum zu. Bei allen kosmischen Prozessen, dem funkelnden Feuerzauber der Sonnen und Galaxien, entweiche ständig Energie ins Weltall, bis schließlich ein universales Gleichgewicht entstanden sei - ein Zustand, den die Wissenschaftler Entropie nennen.
Bezeichnet wird damit eine Art von stiller Anarchie, eine permanent wachsende Unordnung: Wo immer Energie erzeugt und in Bewegung, Wärme oder Licht verwandelt wird, konstatierten die Forscher den Zerfall komplex gebauter Materie in einfacher strukturierte Stoffe. Am Ende, glaubten sie, werde vom Kosmos nur eine bewegungslose, vollkommen gleichmäßig verteilte und temprierte Partikelwolke übrigbleiben.
Doch die Lehre vom offenbar unaufhaltsamen Entropie-Gefälle, das eine Umkehr des Zeitpfeils nicht zuläßt, verlor im 20. Jahrhundert an Überzeugungskraft. Widerspruch kam nicht nur von Kosmologen wie dem Briten Hawking, sondern auch von den Elementarteilchen-Physikern, die behaupteten, mit Hilfe ihrer Partikelschleudern die Umkehrbarkeit der Zeit experimentell nachweisen zu können.
Auch der russische Physiker und Chemie-Nobelpreisträger Ilya Prigogine, 69, der meist in Brüssel lehrte und zu den bedeutendsten Naturforschem der Gegenwart zählt, schürt seit langem die Zweifel an der Entropie-Lehre. Es sei, meint Prigogine, ja keineswegs zutreffend, daß der Kosmos allenthalben in immer simplere Bausteine zerbröckle:
Auf seinem Heimatplaneten Erde glaubt der universal gebildete Russe den Beweis dafür zu finden - hochgradig komplexe Organismen, die im Laufe weniger Jahrmilliarden entstanden sind und dem Entropie-Gefälle offensichtlich entgegenwirken. Doch auch in der unbelebten Materie sieht Prigogine Eckpfeiler, die dem Entropie-Prozeß standhalten, so etwa die beim Urknall entstandenen Baryonen, kompliziert gebaute Elementarteilchen, die sich seit 20 Milliarden Jahren nicht verändert haben.
Vermutlich, schätzt Prigogine, gelte das pessimistisch anmutende Entropie-Gesetz nur in der Nähe des kosmischen Endzustands - gleichsam während der Agonie des Universums. Doch daß es dereinst dahin kommen muß, ist für Prigogine noch durchaus ungewiß. Denn die Geschichte des Kosmos läuft nach seiner Überzeugung keineswegs unerbittlich ab wie ein mechanisches Uhrwerk: Der Weg in den Entropie-Tod, meint er, sei nur eine von vielen möglichen Entwicklungslinien.
Gleichwohl: Trotz aller Kritik am überlieferten thermodynamischen Weltbild glaubt Prigogine nicht, daß der Zeitstrom zurückfließen kann. »Sie können die Entwicklung des Weltalls nicht einmal theoretisch umkehren«, erklärte er in einem Vortrag; und auch die Zukunft des Universums sei nicht mit Sicherheit vorauszusagen. Wer über den noch immer unzulänglichen Wissensstand hinauskommen wolle, müsse sich zunächst ein gründlich verbessertes theoretisches Rüstzeug verschaffen.
Davon, so scheint es, hat der russische Naturforscher inzwischen auch seinen 25 Jahre jüngeren Gegenspieler aus Cambridge überzeugen können: Auf einer Astrophysiker-Tagung in Chicago revozierte Hawking letzten Monat seine These von der rückwärts laufenden Zeit.
Hawking, der seit vielen Jahren an unheilbarem Muskelschwund leidet, war nicht in der Lage, seinen Widerruf selbst vorzutragen; seit kurzem sind auch seine Kehlkopfmuskeln gelähmt. Vom Rollstuhl aus ließ er eine näselnde Computerstimme ertönen, die kundgab, was der Gelehrte zuvor mühsam in eine Tastatur getippt hatte.
Er sei, so ließ Hawking sein Auditorium wissen, mittlerweile zu der Einsicht gekommen, daß der Zeitstrom auch dann weiter in die Vorwärtsrichtung fließen müsse, wenn das Universum wieder schrumpfen würde. Die damit eingeräumten Zweifel an seinen früheren Theorien kommentierte der Himmelsforscher mit Humor.
Wer einen Film rückwärts ablaufen lasse, erklärte er, könne beispielsweise sehen, wie eine am Boden zerschellte Tasse sich hurtig wieder zusammenfüge und auf den Tisch zurückspringe. Das allerdings sei »im wirklichen Leben noch nie beobachtet worden«.
Womöglich, so fügte er ernsthaft hinzu, sei die Theorie vom Urknall und dem darauf unausweichlich folgenden »Big Crunch« ein gar zu dramatisches Weltmodell; anhand neuerer Untersuchungen über die Schwerkraft werde es demnächst vielleicht gelingen, ein weniger katastrophenträchtiges Bild von der Geschichte des Kosmos zu entwerfen.
Schon dem visionären Romanautor Wells war, wie es scheint, die Idee einer Zeitumkehr nicht ganz geheuer. Sein Held kehrte von der zweiten Reise in die Zukunft nie zurück.