AFFÄREN Klinische Grauzone
Der Herr Direktor ist sich seiner Sache noch immer völlig sicher. Im Brustton der Überzeugung verlautbarte der ordentliche Professor Jürgen Schaub, Herr über die 182 Betten und 170 Angestellten der Universitäts-Kinderklinik Kiel, daß er »die Sache« sehr sorgfältig überprüft habe, daß »alles in Ordnung ist« und die »erhobenen Vorwürfe absolut unbegründet« seien.
Das Vor-Urteil des Kinderarztes Schaub, der erst in diesem Jahr von Bayern nach Kiel berufen wurde, wird vom Präsidium der Universität Kiel durch öffentliche Erklärungen abgestützt. Dem Uni-Vizepräsidenten und Politologie-Professor Werner Kaltefleiter, Kandidat der CDU für den nächsten Bundestag, wurde nach kurzem Studium der Sachlage sogar klar, »wie sehr solche Forschungsarbeiten gerade dem Patienten nützen«.
Mit solchen starken Worten suchen Schaub und Kaltefleiter einen dritten Professor im Bunde, den Kinderarzt und Pharmaforscher Claus Simon, vor seinen Anklägern und vor der Strafverfolgung zu schützen. Simon hat »die Sache« eingebrockt.
Seit Ende der sechziger Jahre untersucht der jetzt 51jährige Arzt in einem Speziallaboratorium der Kinderklinik, was mit keimtötenden Arzneimitteln (Antibiotika) im Körper von Menschen geschieht. Für diese Arbeiten haben er und seine Helfer in den vergangenen Jahren Tausenden von Patienten Blut abgezapft, um daraus die Konzentration des jeweiligen Antibiotikums zu bestimmen (SPIEGEL 35/1980).
Dutzende von Studenten legten die Ergebnisse in Doktor-Arbeiten nieder. Die Liste der Veröffentlichungen, die Simons eigenen Namen tragen, umfaßt derzeit 163 wissenschaftliche Arbeiten, die meisten zum Thema Antibiotika.
Dieser Fleiß trug dem beamteten Oberarzt den Titel »Antibiotika-Papst« ein. Bei seiner Arbeit, so ließ sich der Professor Ende August vernehmen, habe er immer »ein gutes Gewissen« gehabt. Seither schweigt er.
Die Lektüre der von Simon und seinen Helfern verfaßten Aufsätze nährt in den Kritikern des umstrittenen Wissenschaftlers den Verdacht, daß mit dem guten Gewissen offenbar Verbotenes durchaus zu vereinbaren war. Der FDP-Fraktionsgeschäftsführer im Kieler Landtag, Martin Schumacher, der die Affäre ins Rollen brachte: »Die Wahrheit muß ans Licht. Offenbar gibt es bei Arzneimittelversuchen an Menschen eine Grauzone.« S.265
Härter noch geht Professor Dr. jur. Erich Samson vom Kieler juristischen Uni-Seminar mit dem Heilkundigen ins Gericht. Samson, der im Auftrag der FDP-Fraktion ein »rechtswissenschaftliches Gutachten« verfaßte, wies Simon eine Fülle strafbarer Handlungen nach. Bei etlichen Antibiotika-Gaben habe es sich zweifellos um »Arzneimittelversuche« an lebenden Menschen gehandelt.
Die hohe Zahl von Blutentnahmen bei Säuglingen und Kleinkindern -- bis zu 16 innerhalb von sieben Stunden -sei therapeutisch »nicht indiziert« gewesen und mithin Körperverletzung, sofern nicht eigens die Einwilligung der Eltern eingeholt worden sei. Rechtskräftig einwilligen können die Eltern in eine Arzneimittelprüfung aber nur dann, wenn sie vorher »besonders gründlich« durch den Arzt aufgeklärt worden sind. Das ist in Kiel nicht geschehen.
Simon behauptet nämlich steif und fest: »Wenn in der Universitätsklinik Kiel in den letzten Jahren Antibiotika-Blutspiegelbestimmungen vorgenommen wurden, so war die Anwendung des Antibiotikums in jedem Fall zur Infektions-Bekämpfung erforderlich.«
Wäre es tatsächlich so gewesen, dann hätte die pauschale Einwilligung der Eltern, die sie bei der Klinikaufnahme für die Kinder unterschreiben müssen, ausgereicht. Darin erklären sie sich mit allen Maßnahmen einverstanden, »die zur Klärung und Behandlung der Krankheit notwendig sind«.
Aus den immer reichlicher ans Licht kommenden Unterlagen ergibt sich freilich ein anderer Sachverhalt. So schrieb der damalige Dekan der medizinischen Fakultät, der Gerichtsmediziner Emanuel Steigleder, am »9. Dezember 1974 dem »sehr geehrten Herrn Kollegen Simon": Die » » Doktorarbeit »Penicillin G-Blutspiegel im Kindesalter« bzw. » » das Ergebnis der mündlichen Prüfung der Promovendin veranlaßt » » mich, Sie auf ein grundsätzliches Problem hinzuweisen: Schon » » beim Lesen der Dissertation sind Zweifel aufgetaucht, ob die » » Applikation von Penicillin G in jedem Fall durch eine » » entsprechende Indikation gerechtfertigt war. Die Promovendin » » hat diese direkte Frage während der Prüfung mir auch » » dahingehend beantwortet, daß eine Indikation für eine » » derartige Zuführung von Medikamenten nicht in iedem Falle » » vorhanden war. Es ist weiter dabei erörtert worden, daß eine » » Einwilligung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten nicht » » eingeholt wurde. Ich muß Sie von Rechts wegen darauf » » hinweisen, daß die Durchführung solcher Untersuchungen » » unzulässig ist. »
Zwei Jahre später mahnte der Promotionsausschuß den als Doktorvater unermüdlichen Simon: »Bei der Mehrzahl Ihrer bisher vergebenen Themen wenden Sie Antibiotika beim Menschen ohne Indikation an. Derartige Untersuchungen fallen unter die Deklarationen von Helsinki bzw. Tokio.« Nach diesen internationalen Abkommen sind die Ärzte verpflichtet, bei Menschenversuchen ethische Grundsätze zu beachten.
Simon jedoch ließ weiter Doktorarbeiten produzieren, bei denen das zuständige Professorengremium »fehlende Originalität«, »fragliche Aussagekraft«, »schlecht geplant und unzureichend durchgeführt« diagnostizierte. Fast immer ging es um dasselbe -- wie schnell oder langsam sich irgendein Antibiotikum im Blut löst und wie lange es dort nachweisbar bleibt.
An den Ergebnissen hatten allerdings Pharma-Fabrikanten meist ein dringendes Interesse. Sie benötigten die -- großzügig honorierten -- Daten, um ihre Novitäten beim Bundesgesundheitsamt zulassen oder mit dem Simon-Lob Werbung treiben zu können.
In den Arbeiten wird, wie Rechtswissenschaftler Samson auffiel, überwiegend von »Versuchen« und nicht von »Untersuchungen« gesprochen.
Zwar betonen Simon und seine Helfer, daß eine minimale Blutspiegel-Konzentration aus therapeutischen Gründen nicht unterschritten werden sollte. »Andererseits zeigen aber die in den Arbeiten mitgeteilten Tabellen und Schaubilder«, so Professor Samson, »daß ganz überwiegend ein Absinken der Antibiotikakonzentration im Blut unter die therapeutisch erforderliche Blutspiegelkonzentration abgewartet wurde.«
Von Simon und seiner Art Wissenschaft suchen sich Mitbeteiligte jetzt schon vorsichtig abzusetzen.
In einer Erklärung, die nicht eidesstattlich abgegeben wurde und die er nur von einer Angestellten unterzeichnen ließ, versichert der langjährige Simon-Chef, der Pädiatrie-Professor Hans-Rudolf Wiedemann: »Mir ist nicht bewußt und erinnerlich, daß in unserer stationären Behandlung gestandene S.268 Kinder ohne medizinische Indikation Antibiotika erhalten hätten, und keinesfalls ist derartiges auf meine Weisung hin erfolgt.«
Andere Doktoren räumen mittlerweise ein, daß Kindern auch vorsorglich, zur »Infektionsprophylaxe«, Antibiotika gegeben wurden. Ein Simon-Mittäter -- »soweit ich mich erinnern kann« -- ist sicher, daß seinerzeit nur diejenigen Kinder ein Antibiotikum erhielten, bei denen eine »echte« Indikation vorlag.
Wie lange Uni-Vizepräsident Kaltefleiter allein mit den schwachen Erinnerungen der Doktoren argumentieren kann, steht dahin. Die Gedächtnislücken ließen sich -- und das wissen die Ärzte auch -- auf herkömmliche Weise schließen: durch einen Blick in die Krankengeschichten.
Diese liegen, seit 1949 vollständig gesammelt, im ersten Stock der Kieler Kinderklinik, zum Greifen nahe für Chef Schaub und seine Mitarbeiter. Die Krankenakten sind nach dem Alphabet, dem Geburtsdatum und der Diagnose geordnet.
Leider ist keinem der Kieler Doktoren bisher ein Kindername eingefallen, und niemand hat, so heißt es, anderswo Laborunterlagen aufbewahrt. Deshalb seien, sagt CDU-Mann Kaltefleiter, die Krankengeschichten »mit vertretbarem Aufwand« nicht mehr herauszufinden.
Doch auch ohne die Namen der Kinder zu kennen, dürfte das jedem Staatsanwalt mühelos möglich sein: In den wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind das Lebensalter der Kinder und ihre Diagnose, der Untersuchungszeitraum und manchmal sogar die Initialen der Namen nachzulesen.
S.265
Die Doktorarbeit »Penicillin G-Blutspiegel im Kindesalter« bzw. das
Ergebnis der mündlichen Prüfung der Promovendin veranlaßt mich, Sie
auf ein grundsätzliches Problem hinzuweisen: Schon beim Lesen der
Dissertation sind Zweifel aufgetaucht, ob die Applikation von
Penicillin G in jedem Fall durch eine entsprechende Indikation
gerechtfertigt war. Die Promovendin hat diese direkte Frage während
der Prüfung mir auch dahingehend beantwortet, daß eine Indikation
für eine derartige Zuführung von Medikamenten nicht in iedem Falle
vorhanden war. Es ist weiter dabei erörtert worden, daß eine
Einwilligung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten nicht eingeholt
wurde. Ich muß Sie von Rechts wegen darauf hinweisen, daß die
Durchführung solcher Untersuchungen unzulässig ist.
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