Brüssel Knebel gelockert
Mit gramzerfurchtem Gesicht trat der füllige EG-Politiker letzten Donnerstag in Straßburg vor die Presse. Thema war die drohende Pleite der europäischen Biotechnologie. Doch der herbeigeredete Absturz wird nicht kommen. Dank Bangemann.
Tags zuvor hatte der deutsche Binnenmarkt-Kommissar, gemeinsam mit seinem italienischen Kollegen Fillipo Maria Pandolfi, ein internes Strategiepapier durch die EG-Kommission gepeitscht, das die politische Marschroute festlegt, mit der das Abendland in die genmanipulierte Zukunft schreiten soll.
Auf 18 Seiten beklagt das Grundsatzdokument die angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit und das »miserable Image« der europäischen Gen-Handwerker. Gefahr sei im Verzug, die EG verliere den Anschluß an eine Entwicklung, die doch soviel »positive Auswirkungen auf unseren Alltag« verspreche.
Das Papier sieht vor, Forschung und Entwicklung neuer Biotech-Verfahren vehement zu unterstützen. Eine großangelegte Imagekampagne soll »diffuse« Ängste in der Bevölkerung zerstreuen. EG-weite gentechnische Informationsnetze gelte es unverzüglich aufzubauen. Jeder vernünftige Politiker, meint Bangemann, müsse der Homunkulus-Zunft als »Beschleuniger und Wegbereiter« dienen.
Derzeit arbeiten in der EG etwa 800 Unternehmen auf dem Gebiet der Gentechnik, in den USA sind es 1000, in Japan 300. Allein bis zum Jahr 2000, so Bangemann, werde die »Schlüsseltechnologie der Zukunft« annähernd »zwei Millionen Jobs« schaffen. Am Erbgut-Gefummel führe kein Weg vorbei, im Gegenteil: »Wirtschaftszweige, die das neue Wissen ignorieren, werden im Wettbewerb untergehen.«
Noch steckt die Biotechnologie in den Anfängen, doch die Gentechnik-Lawine scheint unaufhaltsam: *___Die agrarchemische Industrie erprobt bereits ____pestizid-resistente Kartoffeln, Zuckerrüben und ____Tabakpflanzen. Genbotaniker versuchen, Pflanzen gegen ____Salz und Dürre resistent zu machen oder so umzubauen, ____daß sie Stickstoff aus der Luft aufnehmen können, die ____Düngung entfiele. In Großbritannien wartet der ____Chemiemulti ICI auf die Markteinführung von ____Gen-Tomaten, die nicht matschig werden. *___Die pharmazeutische Industrie stellt ein ganzes Schock ____von Wunderdrogen in Aussicht. Bereits auf dem Markt ____erhältlich sind gentechnisch hergestelltes Insulin, das ____Medikament TPA (Tissue Plasminogen Activator) zur ____Auflösung von Blutgerinnseln und das Präparat Faktor ____VIII, ein Gerinnungsstoff für Bluterkranke. *___Die Nahrungsmittelindustrie erprobt die Vorzüge der ____Genmanipulation an Käse und Brot. In der Schweiz, ____Frankreich und den Niederlanden ist genmanipuliertes ____Labferment (Chymosin) zur Käsegerinnung zugelassen. ____Britische Bäcker treiben mit genetisch gequirlter Hefe ____Backwaren in die Höhe.
Dieser hoffnungsvollen Entwicklung, fürchtet der EG-Marktwirtschaftler Bangemann, werde Europa bald hinterherlaufen. Die europäische Biotechnologie, von unzähligen Vorschriften geknebelt, müsse derzeit mit »wesentlich höheren Kosten« fertigwerden, die »Attraktivität des Standorts Europa« sei bedroht. Doch der deutsche Kommissar verspricht Abhilfe: »Die Gemeinschaft bemüht sich, der Industrie keine unnötigen Hürden in den Weg zu stellen.«
Beim Schutz geistigen Eigentums auf dem Biotech-Sektor will die EG nun gleichfalls nachhelfen. Zum einen sollen die Patentfristen verlängert werden, damit die Industrie ihre Kunstorganismen gewinnbringender vermarkten kann. Zudem sollen - bisher verboten - auch manipulierte Lebewesen geschützt werden können. Bauern und Züchter werden für geklonte Pflanzen oder gentechnisch optimierte Nutztiere in Zukunft Geld zahlen müssen.
Auch das vom EG-Parlament geforderte »vierte Kriterium« wird mit dem Strategiepapier vom Tisch gewischt. Diese Richtlinie sah vor, bei der Zulassung von Gentech-Produkten deren »sozio-ökonomische Auswirkungen« in Betracht zu ziehen. Das Turbokuh-Hormon BST etwa wäre dann nie auf den Markt gekommen. Die Hormonspritze läßt Kuheuter anschwellen und erhöht den Milchausstoß um bis zu 25 Prozent. Wenn sich das BST durchsetzen würde, dürften die Milchseen der EG endgültig überlaufen.
Seit Jahren warten die US-Hersteller Monsanto und Eli Lilly auf den massiven Einsatz ihrer Kuharznei in Europa. Nun dürfen sie aufatmen: »Die Gemeinschaft«, so Bangemanns Zukunftskurs, »muß Situationen vermeiden, die Unsicherheit erzeugen.« Richtschnur für eine Zulassung dürften nur »klare, objektive Produktkriterien« sein und nicht nebulöse Sozialhürden wie das vierte Kriterium.
Doch das Strategiepapier enthält noch weitere Trümpfe für den Gen-Durchmarsch. Spezielle Verordnungen für gentechnisch gewonnene Präparate werden von den EG-Marktstrategen weitgehend abgelehnt. Der zu erwartende Biotech-Boom, behaupten sie, könne mit den bisherigen Produktvorschriften gemeistert werden.
Nach geltendem Recht werden alle Medikamente über einen Kamm geschoren. Entscheidend für die Zulassung sind nur die drei Kriterien Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit. Ob das Endprodukt in Biofermentern zusammengebraut wurde oder im Chemielabor, hat die Prüfer nicht zu interessieren.
Zu welch fatalen Folgen die viel zu allgemein gehaltenen Vorschriften führen können, zeigt das von genmanipulierten Bakterien produzierte Schlafmittel L-Tryptophan, an dem im Sommer 1989 in den USA 27 Menschen starben. Ein winziger Fehler, den ein neuer Bakterienstamm in das Präparat eingeschmuggelt hatte, verwandelte die Substanz in einen toxischen Killer.
Auch die vermeintliche Strangulierung der Genforschung will Bangemann lockern. Bisher herrschen strenge Vorschriften zum Arbeitsschutz in Genlabors. Freilandversuche müssen genehmigt, Abfälle streng entsorgt, neue Projekte einer »Risiko-Abschätzung« unterzogen werden.
Seit Monaten läuft die Industrie Sturm gegen die angebliche Behinderung ihres Entdeckerdrangs. Bangemann verschafft den Unternehmern nun Gehör: »Die Forschung im Vorfeld der Marktzulassung«, so das Grundsatzpapier, »bleibt den Firmen selbst überlassen«; der »Anreiz zum innovativen Konkurrenzkampf« dürfe nicht beschränkt werden.
Kritiker wie die grüne EG-Parlamentarierin Hiltrud Breyer sehen in der neuen EG-Linie »eine Aufweichung bestehender Gesetze«; mit dem »Totschlag-Argument Wettbewerbsfähigkeit« werde der Biotechnologie ein Freibrief ausgestellt. Auch Wolfgang Löhr vom Gen-ethischen Netzwerk in Berlin kann an der Marschroute keinen Gefallen finden: »Der Verbraucherschutz bleibt total auf der Strecke.«
Bangemann ist indes zufrieden: Werde sein Forderungskatalog umgesetzt, könne Europa im internationalen Wettbewerb bestehen. Ethisch heikle Fragen, etwa beim Experimentieren mit Feten, will er jeweils von »Fall zu Fall« von einem Moral-Komitee entscheiden lassen. Klare Vorschriften und Verbote werden auch hier ausgespart, denn, so die Brüsseler Weisheit: »Generelle Lösungen für ethische Probleme gibt es nicht.«
Immerhin, alles will die Kommission nicht durchgehen lassen: »Patente auf Menschen«, heißt es im Strategiepapier, »würde wohl jeder zurückweisen.« o