Zur Ausgabe
Artikel 105 / 126

INTERNET Kommune der Chips

Neuartige Rechenzeitbörsen verkoppeln Millionen von Privat-PC miteinander. So entstehen die schnellsten Rechner der Welt.
aus DER SPIEGEL 32/2000

Tag und Nacht lauscht das Radioteleskop im Bergwald bei Arecibo in Puerto Rico ins All, auf der Suche nach intelligentem Leben. Nun sind die Forscher fündig geworden - allerdings nicht im Weltraum, sondern im Internet.

Für die Jagd nach außerirdischen Botschaften haben sie, als Nebenprodukt sozusagen, den schnellsten Superrechner der Welt geschaffen. Der allerdings ist fremdartig wie ein Alien: Er steht nicht in irgendeinem Institutskeller, sondern umgreift krakenhaft den Erdball. Seine Rechenkraft ist auf Millionen normaler PC verteilt.

Mehr als 50 Gigabyte wirren Datensalat empfängt das Teleskop jeden Tag. Aus diesem digitalen Müll hofft ein kleines kalifornisches Projekt namens Seti (für »Search for Extraterrestrial Intelligence") sinnvolle Signale herausfiltern zu können. Doch die Seti-Rechner wären von der Datenflut völlig überfordert - wenn nicht David Anderson, 44, dazugestoßen wäre.

Der vielseitige Informatiker, der in seiner Freizeit gern bei Freunden Klavierkonzerte gibt, wenn er nicht gerade als Sportkletterer in einer Felswand hängt, beschloss, die Datenmasse einfach in viele kleine Pakete aufzuteilen und diese per Internet an Tausende von Privatrechnern zu versenden. Jeder von ihnen, so Andersons Plan, könnte sein Paketchen analysieren und das Ergebnis dann zurückschicken.

Vor gut einem Jahr ging sein Projekt online. »Wir hofften, dass mindestens 100 000 Leute mitmachen würden«, erinnert sich Anderson. Aber schon nach einer Woche hatten doppelt so viele freiwillige Helfer seine Software »Seti@home« heruntergeladen; heute sind es über 2,2 Millionen. Durchschnittlich 12 Billionen Rechenschritte (Teraflops) schafft der virtuelle Gemeinschaftsrechner pro Sekunde - viermal so viel wie die besten herkömmlichen Rechner.

Eigentlich besteht Andersons Rechnerpark aus wenig mehr als einem Bildschirmschoner, der unter verschiedenen Betriebssystemen wie Windows, Unix oder Mac OS läuft. Immer, wenn der Rechner läuft, aber nicht benutzt wird, springt das Miniprogramm an und durchsucht einen kleinen Datensatz, der beim Herunterladen mitgeliefert wurde: knapp zwei Minuten Rauschen aus dem All, aufgefangen vom Arecibo-Teleskop.

Sobald der Rechner wieder benutzt wird, fällt Seti@home in den Schlummermodus. Und bei der nächsten Internet-Verbindung überträgt er sein Suchergebnis auf Andersons Zentralrechner in Kalifornien.

Sachdienliche Hinweise wurden dabei bislang zwar nicht gefunden, dafür aber eine Geschäftsidee: Zahlreiche kommerzielle Rechenzeit-Vermittler, die nach dem Vorbild von Seti funktionieren, werden derzeit gegründet. »Distributed Computing« heißt das Schlagwort, verteiltes Rechnen also.

Die Aussichten sind verlockend: Warum sollte der Rechner daheim nicht seinen eigenen Unterhalt verdienen? Bis zu zehn Dollar pro Monat könnte ein Teilnehmer mit einem schnellen Rechner dazuverdienen. Schließlich stehen PC die meiste Zeit ungenutzt herum, ihre Prozessorleistung wird kaum genutzt.

Diese Rechenkraft wird andererseits von vielen mittelständischen Firmen händeringend benötigt. Vor allem im Bereich der Gen- und Pharmaforschung, aber auch bei der Bildbearbeitung werden phasenweise gigantische Rechenleistungen gebraucht.

Schon bald sollen sie im Netz zu haben sein. Anderson selbst baut die Firma United Devices mit auf, die zahlenden Kunden Superrechnerdienste zur Verfügung stellen will. »Wenn zum Beispiel die Pixar-Studios ,Toy Story 3' produzieren wollen«, so beschreibt David McNett von der Konkurrenzfirma Distributed sein Szenario, »brauchen sie keine Maschinen zu kaufen, sondern bieten einfach an einer Prozessorbörse mit.«

Schon heute bedienen sich einige Forscher fremder Computer, um Radioaktivität zu berechnen oder Primzahlen zu suchen. Rund 20 Projekte mit klingenden Namen wie Casino-21, Gamma Flux, Popular Power, Parabon oder Entropia umwerben die Netzbürger. Doch bisher setzen fast alle auf freiwillige Spender von Rechenzeit. Geld gibt es bei den meisten Vermittlern erst ab Herbst zu verdienen.

Doch ob das verteilte Rechnen je aus der Nische der wohltätigen Chipkommunen herauskommen wird, ist ungewiss. Denn nicht jedes Problem eignet sich dazu, in Teilprobleme zerlegt zu werden.

»Bislang habe ich in diesem Bereich kein Geschäftsmodell gefunden, das wirklich stimmig ist«, kritisiert Geoff Baum, Start-up-Berater bei der Firma Garage im kalifornischen Palo Alto. »Welche Pharmafirma würde denn ihre sensiblen Daten auf Millionen von Internet-Rechnern verteilen wollen?«, fragt sich auch Mathilde Romberg, Computerspezialistin im Forschungszentrum Jülich.

»Wir arbeiten mit einer unknackbaren 128-Bit-Verschlüsselung«, sucht dagegen Jim Albea von der Firma Distributed Science seine Kunden zu beschwichtigen. »Kein Unbefugter wird je herausbekommen, welche Daten auf seinem Rechner verarbeitet werden.«

Mit solchen Versprechungen jedoch könnte Albea das Misstrauen seiner anderen Kunden wecken: Werden sie einem fremden Programm Zutritt zu ihrem Rechner gewähren, wenn sie nicht überprüfen können, was genau es dort anstellt?

Nicht einmal, ob es womöglich feindlich gesinnt ist, ließe sich mit Sicherheit ausschließen - fast wie bei den Aliens eben, nach denen das Seti-Projekt bislang vergeblich am Himmel sucht. HILMAR SCHMUNDT

Zur Ausgabe
Artikel 105 / 126
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten