VERHALTENSFORSCHUNG Macht der Niedertracht
Fätich«, verkündet die dreijährige Mimi und schiebt das Tütchen mit den restlichen Gummibärchen weg. Pappsatt ist sie, mag jetzt nichts Süßes mehr. Emma, die große Schwester, merkt auf. »Dann kann ich doch eigentlich ...«, sagt die Fünfjährige und greift nach dem verschmähten Zeug. »Nein!«, gellt da Mimi. Rasch reißt sie das Tütchen wieder an sich, stopft die Bären in den Mund, alle auf einmal; bunte Brühe suppt ihr über die Lippen.
Alltägliche Ranküne im Kinderzimmer - es scheint, als sei Missgunst früh angelegt im Menschen. Zur Blüte kommt sie später als Schadenfreude, wenn erwachsene Menschen sich daran ergötzen, dass Schauspielerin Isabel Varell im TV-Dschungelcamp ("Ich bin ein Star - holt mich hier raus") ihren Kopf in eine Kugel voller Kakerlaken steckt oder dass Gebrüll aus dem Chefzimmer dringt, wo die smarte Überfliegerin der Abteilung endlich mal richtig zusammengestaucht wird.
So gemein ist nur der Mensch - das jedenfalls legt der jüngste Versuch des kanadischen Verhaltensforschers Keith Jensen nah. Der Biologe vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie wollte wissen, ob der Schimpanse zu ähnlicher Bosheit fähig ist wie sein Vetter, der Homo sapiens, von dem ihn nur ein Prozent des Erbguts trennt.
Hinter Jensens Versuch stecken fundamentale Fragen, die derzeit Neurobiologen, Evolutionsforscher und Ökonomen heiß diskutieren und deren Beantwortung sie mit raffinierten Versuchen an Kindern, Erwachsenen und Affen gerade ein ganzes Stück näher gekommen sind: Woher stammt die Missgunst? Wozu ist sie gut? Und schleppt der Mensch sie als uraltes Erbe der Evolution mit sich herum? Dann müsste sie bereits bei den Primaten vorhanden sein.
Um diese Idee zu testen, baute Jensen eine Apparatur aus Seilen und zwei rollenden Tischchen, jeweils bestückt mit Bananen. Zog der Affe aus seinem Glaskäfig heraus an der linken Strippe, rollte ein Tablett mit Bananenstückchen in seine Reichweite. Wählte er dagegen die rechte, so kam auch sein Nachbar an die Leckereien heran.
Steckte im Tier die Bosheit der kleinen Mimi, zöge es immer am linken Seil - um nur ja dem anderen nichts zu überlassen. Das tut der Schimpanse aber nicht. Wahllos zieht er mal links, mal rechts. Von Missgunst keine Spur. »Hauptsache, er kriegt was zu fressen«, resümiert Jensen.
»Ich konnte es kaum glauben«, sagt der blondbärtige Forscher und schüttelt den Kopf. »Diese Tiere schikanieren sich ständig, prügeln sich - ich war mir sicher, dass sie auch zur Bosheit fähig sind!«
Wie zur Bestätigung kreischt hinter Jensens Rücken eine Schimpansin auf, die Zähne gebleckt; fest krallt sich das Baby an ihre Brust. Eigentlich wollte Corry gerade vom Experimentierraum des Primatenforschungszentrums im Leipziger Zoo zurück ins Gehege klettern. Aber die Luke versperrt Frodo, testosterongeschwellter Sohn des Alphamännchens, der schon seit einiger Zeit seinem Vater die Macht streitig macht. Unverwandt starrt der Muskelprotz Corry an - dann packt er ihre Unterlippe, als wollte er sie abreißen; dabei schiebt er sein Becken samt erigiertem Penis rhythmisch vor und zurück. Corry drückt sich, vor Panik schreiend, in die hinterste Ecke.
Solche Szenen sind keine Seltenheit bei Schimpansen. »Die reißen sich auch gern mal die Hoden ab«, berichtet Jensen. Im Sinne der Forscher hat all das mit Bosheit jedoch nichts zu tun. Frodos Drohgebärde an der Luke dient vielmehr dem Ziel, die Weibchen jeden Tag ein Quäntchen weiter zu unterwerfen, bis er es irgendwann ganz nach oben schafft, an die Spitze der Horde.
»Von purer Bosheit dagegen sprechen wir«, erklärt Jensen, »wenn einer dem anderen schadet, nur um ihn leiden zu sehen. Manch einer nimmt dafür sogar Nachteile in Kauf.«
In der Tat sind Menschen durchaus bereit zum Verzicht - wenn sie damit nur ihrem Gegenüber eins auswischen können; das haben Ökonomen wie Ernst Fehr von der Universität Zürich erkundet. Längst weiß er, dass es den idealen, kühl kalkulierenden Homo oeconomicus nicht gibt. »Aber in welchem Ausmaß Missgunst dem Menschen manchmal die Vernunft raubt«, sagt Fehr, »erstaunt immer wieder.«
Beobachten lässt sich die Macht irrationaler Niedertracht besonders gut im sogenannten Ultimatumspiel. Da überlassen die Ökonomen einer Versuchsperson zum Beispiel 100 Euro. Laut Spielregeln muss sie davon etwas abgeben an einen Partner. Wie viel, kann sie selbst entscheiden. Sie macht also ein Angebot. Akzeptiert der Partner die Summe, darf jeder seinen Anteil behalten. Passt dem Beschenkten die ihm zugedachte Summe aber nicht, lehnt er also ab - dann, so wissen beide Parteien, ist alles Geld futsch, sind die 100 Euro verloren.
Das Verrückte dabei: Selbst ein Angebot von 25 Euro lehnen die meisten ab. »Aus purer Bosheit«, sagt Keith Jensen, »nur um den anderen zu bestrafen für sein unfaires Verhalten.« Nach der Devise: Wenn für mich nicht genug abfällt, soll der andere sehen, was er hat von seinem Geiz.
Genau darin, das wissen die Forscher inzwischen, scheint der Sinn der Bosheit zu liegen: Strafe erzieht zur Fairness. Wiederholen die Forscher das Ultimatumspiel öfter, berichtet Ökonom Fehr, legen die Geizhälse in jeder Runde, nach jedem Totalverlust ihres Geldes durch ein abgelehntes Angebot, im Schnitt sieben Euro drauf. Der boshafte Bestrafer ist in Wahrheit - wenn auch unbewusst - ein Wohltäter.
»Altruistische Bestrafung« nennen Wissenschaftler die Erziehungsmethode des Geldverweigerns im Ultimatumspiel. Altruistisch, weil die meisten auch dann die 25 Euro ablehnen, wenn sie genau wissen, dass es nur eine einzige Spielrunde geben wird. Sie erziehen also die unfairen Spieler zum Gemeinsinn, ohne selbst etwas davon zu haben.
Ob als Jäger und Sammler in einem tansanischen Hüttendorf, ob als Angestellter in einer modernen Demokratie - der Homo sapiens ist auf Gemeinsinn geeicht. Er kooperiert: Jeder gibt das Seine zum Gelingen dazu. So führt er Kriege, so baut er Häuser, so betreibt er Welthandel. »Diese Fähigkeit ist für den Menschen absolut fundamental«, sagt Fehr, »und sein Kooperationsvermögen einzigartig.« Es unterscheidet ihn wie kaum eine andere Eigenschaft vom Tier.
Aber die altruistische Gesellschaft hat ein Problem: Gierhälse, egoistische Trittbrettfahrer also, die nur einstecken und niemals abgeben. »Etwa 15 Prozent der Leute sind solche Missetäter, die nicht kooperieren«, schätzt Fehr.
Lässt man diese Heuschrecken gewähren, vergiften sie bald das Klima. Misstrauen wächst - die zu oft geprellten Altruisten beginnen nun auch zu geizen, um ihre Pfründen zu retten. Kaum einer mag jetzt noch kooperieren. Ein Staat, in dem dies geschieht, wird zu der »großen Räuberbande«, die der Papst vorige Woche in seiner Enzyklika geißelte.
So muss einst die altruistische Bestrafung aufgekommen sein - und damit die Bosheit, das »Strafen um des Strafens willen«, wie Fehr es nennt. »Diese Bereitschaft, Regelverletzungen und nichtkooperatives Verhalten zu sanktionieren, ist entscheidend, um die Gesellschaftsordnung, die Märkte, Organisationen, Familien und Gemeinden aufrechtzuerhalten.«
Um Trittbrettfahrer aber bestrafen zu können, müssen sie zuerst entlarvt werden. Dafür, glauben die Forscher, hat sich ein feiner Sinn für Fairness im Menschen gebildet. »Dieses Gefühl für Ungleichbehandlung ist der Grund«, meint Biologe Jensen, »warum einer, der eben noch mit seinem Auto völlig zufrieden war, es plötzlich hasst, nur weil vor des Nachbars Garage jetzt ein schickerer Wagen steht.«
So tief sitzt der Neid, dass zumindest in Fragebogenstudien der Ökonomen viele auf ganze 20 000 Euro Jahreseinkommen verzichten würden, solange sie dadurch
mehr verdienen als die Mitspieler. Also: lieber 50 000 Euro einsacken, wenn der andere nur 40 000 bekommt, als 70 000 Euro einstecken, wenn der andere 80 000 erhält.
Kinder entwickeln den Fairness-Detektor offenbar im Alter zwischen drei und acht, das zeigt eine noch unveröffentlichte Studie von Fehr und seiner Kollegin Helen Bernhard. Ähnlich wie die Schimpansen in Jensens Experiment konnte dabei eine kleine Versuchsperson wählen zwischen Geiz und Großzügigkeit: Entweder jeder erhält, ganz gerecht, genau ein Tütchen Gummibären. Oder aber das andere Kind bekommt zwei.
Es zeigte sich, dass es den Dreijährigen noch ziemlich egal ist, ob die Gefährten mehr einstreichen oder nicht: Die Hälfte entschied sich fürs gerechte Teilen, die andere Hälfte gönnte dem anderen Kind das Tütchen obendrauf. Die Achtjährigen dagegen erwiesen sich als Meister der Gerechtigkeit - knapp 90 Prozent von ihnen teilten streng eins zu eins. »Das ist ein sehr starker Effekt«, sagt Fehr. »Kinder besitzen offenbar ein ausgeprägtes Gespür für Gerechtigkeit.«
Verfügen sie damit wirklich über etwas, was Tieren grundsätzlich fehlt? »Inzwischen ziehe ich in Erwägung, dass Schimpansen tatsächlich keinen Sinn für Fairness haben«, gesteht Jensen.
Wann aber hat sich die Fairness, und mit ihr die Bosheit, eingenistet im menschlichen Geist? Und wie: in den Genen vererbt oder kulturell tradiert? »Darüber können wir nur spekulieren«, gibt Fehr zu. »Dass aber so viele der älteren Kinder eins zu eins teilen, wenn sie dem anderen auch mehr zukommen lassen könnten, weist schon auf eine starke biologische Komponente hin.« Denn die Achtjährigen, meint er, stellten sich damit gegen den starken Erziehungsdruck der Eltern. »Wir hämmern denen doch jahrelang ein, dass sie abgeben und großzügig sein sollen.«
Ob gelernt oder angeboren - die Schadenfreude über die Bestrafung Ungerechter scheint tief in der menschlichen Biologie verankert. Einen handfesten Beweis dafür haben gerade Tania Singer und ihre Kollegen vom University College London gefunden. Sie ließen, wie die Ökonomen, ihre Probanden ein Kooperationsspiel durchleben. Undercover nahmen zwei Schauspieler teil: der eine ein rücksichtsloser Profiteur, der andere ein kooperativer Gutmensch. Am Ende bestraften die Wissenschaftler die beiden Spieler vor den Augen der Teilnehmer mit leichten Elektroschocks an den Händen; das schmerzt ähnlich wie der Stich einer Biene.
Mit bildgebenden Verfahren maß Singer die Reaktion der Probanden in deren Gehirn. Züchtigte sie den lieben Mitmenschen, signalisierten die Neuronen der Zuschauer Mitleid. Piesackte sie dagegen den Quertreiber, feuerten die Nervenzellen im Belohnungszentrum des Hirns - zumindest bei den Männern. Sie schienen die gerechte Bestrafung zu genießen - Schadenfreude satt.
Warum freuten sich die Frauen nicht? Das liege daran, dass die Bestrafung körperlich sei, vermutet Fehr: »Wir haben starke Hinweise darauf gefunden, dass Frauen Normverletzungen lieber mit Geldstrafen ahnden. Männer dagegen verspüren eher den Impuls, dem anderen ,eine in die Fresse zu hauen', wenn er unfair war.« RAFAELA VON BREDOW