Alzheimer-Patienten Musik bleibt

Selbst wenn sie ihre Enkel nicht mehr erkennen, können viele Alzheimer-Patienten noch Lieder mitsingen. Deutsche Forscher haben jetzt eine Erklärung gefunden: Offenbar sind Teile des Gehirns unempfindlicher gegen die Erkrankung.
Von Gunnar Römer
Senioren hören gemeinsam Musik: Alte Lieder bleiben trotz Alzheimer sehr lange in Erinnerung

Senioren hören gemeinsam Musik: Alte Lieder bleiben trotz Alzheimer sehr lange in Erinnerung

Foto: Corbis

Aus ihren 35 Jahren als examinierte Altenpflegerin ist Gudrun Römer* eine Situation besonders im Gedächtnis geblieben: Sie betritt das Zimmer einer betagten Dame, deren Alzheimer-Erkrankung das Endstadium erreicht hat. Die Bewohnerin der Koblenzer Senioreneinrichtung erkennt selbst ihre nächsten Angehörigen nicht mehr, alle Erinnerungen scheinen ausgelöscht. Dann passiert das Erstaunliche.

Eine Gruppe Rekruten marschiert - alte Soldatenlieder singend - am offenen Fenster der Dame vorbei, das Altersheim befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft einer Kaserne. Als sie die Lieder hört, beginnt die Frau plötzlich über das gesamte Gesicht zu strahlen. Augenscheinlich war das Sprachvermögen der Patientin bereits vollständig verloren gegangen. In diesem Moment aber singt sie die Lieder textsicher mit.

Die Szene beschreibt ein Phänomen, das sowohl Angehörige als auch Pflegepersonal seit vielen Jahren vor ein Rätsel stellt: Warum bleibt Musik bei Alzheimer-Kranken so lange im Gedächtnis? Neurowissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben jetzt eine erste Erklärung dafür gefunden .

Andere Hirnregionen zuständig als vermutet

Für ihr Projekt lokalisierten die Forscher zunächst das Musik-Langzeitgedächtnis im menschlichen Gehirn. Hierzu wurde 32 gesunden Studienteilnehmern eine Auswahl an bekannten, erst kurz zuvor gehörten und völlig unbekannten Liedern vorgespielt. Währenddessen analysierten die Wissenschaftler um Jörn-Henrik Jacobsen die Hirnaktivität der Versuchspersonen mittels Ultrahochfeld-Magnetresonanz-Tomografen - einer Form des MRT.

Hirnscans: Die Darstellung zeigt die Veränderungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten, die Region für das Musikgedächtnis ist in der oberen Reihe rot markiert. Die zweite Reihe von oben veranschaulicht Gebiete mit maximalem Nervenzellverlust, die dritte den Rückgang des Stoffwechsel und die vierte Amyloid-Proteinablagerungen. Wenig betroffene Bereiche sind dort violett dargestellt. (Zum Betrachten der vollständigen Grafik bitte Anklicken)

Hirnscans: Die Darstellung zeigt die Veränderungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten, die Region für das Musikgedächtnis ist in der oberen Reihe rot markiert. Die zweite Reihe von oben veranschaulicht Gebiete mit maximalem Nervenzellverlust, die dritte den Rückgang des Stoffwechsel und die vierte Amyloid-Proteinablagerungen. Wenig betroffene Bereiche sind dort violett dargestellt. (Zum Betrachten der vollständigen Grafik bitte Anklicken)

Foto: MPI f. Kognitions-und Neuroswissenschaften

Anhand der Ergebnisse identifizierten die Leipziger Forscher jenen Teil des Gehirns, der bei der Musikwiedererkennung aktiv ist. Das Ergebnis war eine Überraschung: Bislang vermuteten Experten, dass die Region im Schläfenlappen (Temporallappen) liegt, also dem Teil des Gehirns, der unter anderem für das Hören zuständig ist. Tatsächlich aber ermöglichen Hirnareale die Wiedererkennung von Musik, die sonst für komplexe motorische Abläufe zuständig sind.

Dies passt insofern, dass auch die Fähigkeiten zur Bewegung bei vielen Alzheimer-Patienten sehr lange erhalten bleibt. Die unerwartete Entdeckung diente den Forschern anschließend als Grundlage, um gezielt nach einer Erklärung für das gute Musikgedächtnis von Alzheimer-Kranken zu suchen.

Bestimmte Hirnregionen bleiben weitestgehend verschont

Bei Alzheimer kommt es zu drei wesentlichen Veränderungen im Gehirn: Zum einen lagern sich bestimmte Eiweiße - in der Fachwelt als Beta-Amyloide bezeichnet - ins Nervengewebe ein, zum anderen verläuft der Stoffwechsel in diesen Regionen stark verlangsamt. Schließlich kommt es zu einem Rückgang an Hirnmasse. Auf diese Merkmale hin untersuchten die Leipziger Forscher die für Musikerkennung verantwortlichen Areale bei Alzheimer-Erkrankten.

Der Schwund an Hirnmasse ist demnach in den Regionen - trotzt Eiweiß-Ablagerungen - sehr gering. Auch der Hirnstoffwechsel verläuft auf annähernd gesundem Niveau. Nirgendwo sonst bleibt das Nervengewebe bei Alzheimer derart intakt. Fast scheint es, als wäre dieser Teil des Gehirns unempfindlich gegen die schädlichen Proteineinlagerungen.

Weitere Hinweise fanden Jacobsen und sein Team in vor kurzem veröffentlichter Literatur. Demnach erhöht sich auch die Vernetzung der für die Musikerkennung zuständigen Areale mit anderen, ebenfalls gut erhaltenen Hirnregionen. "Meines Wissens ist unsere die erste neurowissenschaftliche Studie, die sich mit dem Phänomen des erhaltenen Musikgedächtnisses bei Alzheimer-Patienten befasst und eine mögliche anatomische Erklärung dafür liefert", so der Neurowissenschaftler.

Ansatz für innovative Therapien

Als nächstes gilt es zu erforschen, worauf diese Unempfindlichkeit gegen den Erkrankungsprozess basiert. Die Ergebnisse könnten vielversprechende Behandlungsansätze liefern. Bereits jetzt nutzen Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige Musikstücke, um Betroffene bei der Erhaltung von Erinnerungen zu unterstützen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Leipzig könnten Musik zu einem wichtigen Bestandteil neuer Alzheimer-Therapien werden lassen.

* Es handelt sich um die Mutter des Autors.

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