Autoimmun-Erkrankungen Gen-Landkarte enthüllt Ursachen schwerer Leiden

Welche Variationen im Erbgut erhöhen das Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose? Aus den Genomen Tausender Patienten haben Forscher eine detaillierte Gen-Landkarte erstellt, um neue Therapien zu finden.
DNA-Modell: Bestimmte Genvarianten begünstigen Autoimmunerkrankungen

DNA-Modell: Bestimmte Genvarianten begünstigen Autoimmunerkrankungen

Foto: Corbis

Autoimmunkrankheiten sind hinterhältig: Die körpereigene Abwehr gerät bei Betroffenen außer Kontrolle - es kommt zu entzündlichen Prozessen. Bei Multipler Sklerose greifen übereifrige Abwehrzellen die Nervenfasern an, beim kreisrunden Haarausfall die Haarwurzeln. Und auch bei Erkrankungen wie Morbus Crohn, der rheumatoiden Arthritis oder Psoriasis richtet sich das Immunsystem gegen körpereigene Zellen.

Bislang sind über 80 Autoimmunerkrankungen identifiziert, an denen weltweit Millionen von Menschen erkrankt sind. Bereits heute kennen Forscher Hunderte Risikovarianten im Genom, die mit der Entstehung dieser Krankheiten etwas zu tun haben. Welche von diesen Risikovarianten allerdings maßgebende Auswirkungen auf die Anfälligkeit und den Verlauf der Autoimmunerkrankungen haben, ist weitgehend unbekannt.

Jetzt hat ein internationales Wissenschaftlerteam sich auf die Suche nach den Veränderungen im Erbgut gemacht, die für diese Krankheiten verantwortlich sind - 21 der häufigsten Autoimmunerkrankungen haben sie dafür näher untersucht und ihre Ergebnisse im Fachmagazin "Nature"  veröffentlicht.

Die Forscher um die US-Mediziner Kyle Kai-How Farh und Alexander Marson nutzten dafür die Daten aus genomweiten Assoziationsstudien (GWAS), in denen das Erbgut von Patienten systematisch nach veränderten Genvarianten im Zusammenhang mit bestimmten Krankheiten durchsucht wird. Um diese zu analysieren, entwickelten die Wissenschaftler einen neuen Algorithmus.

Damit konnten sie eine detaillierte genetische Landkarte erstellen, anhand derer sich ablesen lässt, welche spezifischen Variationen im Genom das Risiko für eine bestimmte Autoimmunerkrankung erhöhen. Schließlich konnten sie ermitteln, in welchem Zelltyp und über welchen Mechanismus die jeweilige Variante zum Krankheitsrisiko beiträgt.

Genetische Landkarte: Die Farben zeigen die Aktivität der an den Krankheiten beteiligten Zelltypen

Genetische Landkarte: Die Farben zeigen die Aktivität der an den Krankheiten beteiligten Zelltypen

Foto: Nature/ Kai-How Farh et. al

Der Teufel steckt im Detail

"Ziel unserer Arbeit war es, die genetischen Ursachen von Autoimmunerkrankungen besser zu verstehen", sagt Co-Autor Markus Kleinewietfeld von der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden und der Yale University. Und nicht nur das: Mit ihren Berechnungen konnten die Forscher auch zeigen, welche Risikovarianten in welchen Zellen oder Körperregionen an einzelnen Autoimmunerkrankungen beteiligt sind.

Außerdem machten die Mediziner eine erstaunliche Entdeckung: Die Mehrheit der mit den Krankheiten in Verbindung stehenden Varianten lag nicht direkt in den Genen, sondern in nicht-codierenden Bereichen des Genoms. Nicht-codierende Bereiche sind Abschnitte im Genom, die keine Baupläne für Eiweiße enthalten - immerhin über 90 Prozent der DNA. Da Forscher lange nicht wussten, welche Bedeutung diese Abschnitte im Genom haben, deklarierten sie diesen nicht unerheblichen Anteil des menschlichen Genoms anfänglich zu Schrott, Krempel oder englisch: "Junk-DNA". Doch seit einigen Jahren steht fest: Der Erbgut-Müll hat eine Funktion, er ist für das An- und Ausschalten der Gene zuständig, Vorgänge, die die Epigenetik erforscht.

Die in der Studie identifizierten Abschnitte lagen in Bereichen der vermeintlich nutzlosen Junk-DNA und sind für die genregulatorische Funktion von Immunzellen verantwortlich. "Das ist wichtig für die Entwicklung neuer Therapien", sagt der Immunologe. "So weiß man jetzt, welche Zelltypen und Mechanismen man gezielter untersuchen muss."

300 bis 400 Genvarianten sind an der Entstehung von Autoimmunerkrankungen beteiligt. "Häufig haben Patienten mit unterschiedlichen Krankheiten dieselben Genvarianten", schreiben Marson und seine Kollegen in ihrer Studie. Ein möglicher Grund dafür, warum bestimmte Autoimmunkrankheiten auch häufig zusammen auftreten. So haben Patienten mit Multipler Sklerose auch ein erhöhtes Risiko, an Morbus Crohn zu erkranken.

Ein Algorithmus für alle

Der neue Algorithmus ist nicht nur für die Erforschung von Autoimmunerkrankungen von Nutzen. Auch andere Krankheiten lassen sich so untersuchen.

Schon heute ist es möglich, anhand von Genom-Untersuchungen das persönliche Risiko für bestimmte Krankheiten auszumachen. Die jetzt ermittelten Daten könnten diese Suche noch verbessern und präzisieren. Doch Biologe Kleinewietfeld ist vorsichtig: "Zwillingsstudien haben gezeigt, dass, selbst wenn jemand die für Multiple Sklerose entscheidenden Varianten auf den Risikogenen besitzt, die Wahrscheinlichkeit nur etwa 30 Prozent beträgt, dass er die Krankheit bekommt". Bisher deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen zwar vererbt wird, dass jedoch auch Umweltfaktoren eine Rolle dabei spielen, ob das Leiden ausbricht oder nicht.

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