Beunruhigende Studien Tausende Wachkoma-Diagnosen zweifelhaft

Behandlung eines Komapatienten: Wachkoma-Diagnose ist oft ein Irrtum
Foto: DDPLebendig begraben zu sein, ist ein Alptraum. Noch im vergangenen Jahrhundert war die Angst davor, bewusstlos zu werden und in einem Sarg wieder aufzuwachen, weit verbreitet - mitunter zu Recht, denn zu irrtümlichen Begräbnissen von Lebendigen kam es durchaus. Die veränderte Position der Skelette und Kratzspuren am Sargdeckel zeugten bei Umbettungen von ihrem grausigen Schicksal.
In Staaten mit moderner Medizin ist das inzwischen praktisch ausgeschlossen. Dennoch hat der Alptraum bis heute eine Entsprechung, auch in Deutschland: Tausende gelten als Wachkoma-Patienten, obwohl sie bei Bewusstsein sind. Sie sind begraben im eigenen Körper.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge wird pro Jahr bei 3000 bis 6000 Menschen in Deutschland ein Wachkoma festgestellt. Die Lebenserwartung nach der Diagnose liegt bei durchschnittlich fünf Jahren. Damit käme man insgesamt auf etwa 15.000 bis 30.000 derzeit lebende Wachkoma-Patienten in Deutschland.
Bis zu 40 Prozent der Wachkoma-Diagnosen sind falsch
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Boris Kotchoubey von der Universität Tübingen hat gemeinsam mit Kollegen Betroffene mehrfach genauer untersucht. Der Befund: 25 bis 30 Prozent der Diagnosen sind falsch. Andere Untersuchungen, etwa die des belgischen Neurologen Steven Laureys, kommen gar auf Fehlerquoten von rund 40 Prozent.
Allein in Deutschland wären damit mindestens knapp 4000, im schlimmsten Fall bis zu 12.000 vermeintliche komatöse Menschen zumindest teilweise bei Bewusstsein - gefangen im eigenen Körper und unfähig, sich bemerkbar zu machen. Nur die wenigsten haben so viel Glück im Unglück wie Rom Houben, der sich erfolgreich bemerkbar machen konnte - nachdem ihn Ärzte und Pfleger 23 Jahre lang im Wachkoma wähnten. Und schon vor drei Jahren hatten britische Forscher festgestellt, dass das Hirn einer vermeintlich komatösen Frau auf gesprochene Worte genauso reagierte wie das Gehirn eines Gesunden.
Die Wachkoma-Diagnose erfolgt üblicherweise ausschließlich nach klinischen Kriterien, das Verhalten des Patienten und seine Reaktionen auf äußere Reize. Wenn kein Anzeichen bewussten Erlebens feststellbar ist, lautet die Diagnose: vegetativer Zustand. Neurophysiologische Methoden wie etwa die Messung von Hirnströmen, so wie sie Kotchoubey und seine Kollegen angewandt haben, gehören nicht zum Standard. "Das", sagt der Forscher zu SPIEGEL ONLINE, "entspricht nicht mehr dem Stand der Dinge."
Überraschende Ergebnisse von Hirnstrom-Messungen
Kotchoubeys Team hat frühere Studien erneut ausgewertet und Tests durchgeführt, bei denen Wachkoma-Patienten unter anderem Wortpaare oder Sätze vorgelesen bekamen, während die Hirnaktivität gemessen wurde . "Sie können etwa sagen, 'Ich koche meinen Kaffee mit Zucker' oder 'Ich koche meinen Kaffee mit Socken'", erklärt Niels Birbaumer, Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Uni Tübingen. "Wenn Sie 'Socken' sagen, gibt's im Hirn einen riesigen negativen Ausschlag - weil man verstanden hat, dass es ein semantischer Fehler war."
Mit derartigen Tests könne man feststellen, "ob das Gehirn des Patienten noch semantisch und syntaktisch versteht, was da abläuft". Daraus lasse sich zwar nicht mit letzter Sicherheit schließen, dass der Patient bei vollem Bewusstsein sei. "Was ich aber auf jeden Fall daraus schließen kann, ist, dass sein Gehirn in der Lage ist, komplizierte Informationen zu erfassen", so Birbaumer. "Wenn ein Gehirn auf einen komplexen Sachverhalt korrekt reagiert, dann ist es für mich an dieser Stelle ein gesundes Gehirn. Dann kann man nicht mehr sagen, dieser Mensch befindet sich im vegetativen Zustand." Vielmehr müsse man dann vom sogenannten Locked-In-Syndrom ausgehen - dem Eingeschlossensein im vollständig gelähmten Körper.
Ein Fenster in den gefangengen Geist - wie Hirn-Computer-Schnittstellen die Eingeschlossenen ins Leben zurückholen könnten
Birbaumer ist einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Hirn-Computer-Schnittstellen. Ein sogenanntes BCI (Brain Computer Interface) ermöglicht es, die winzigen Ströme aufzufangen, die bei der Arbeit des Denkorgans entstehen. Stellt man sich beispielsweise vor, eine Hand oder einen Fuß zu bewegen, wird der motorische Kortex aktiv. Auf diese Art können BCI-Benutzer, entsprechendes Training vorausgesetzt, allein kraft ihrer Gedanken einen Computer steuern oder gar in Echtzeit flippern, wie Berliner Forscher kürzlich auf eindrucksvolle Weise demonstriert haben.
Kann der Wille verschwinden?
Birbaumer nahm an, dass die vermeintlich Komatösen, die in Kotchoubeys Experimenten semantische Informationen erfassen konnten, auch in der Lage sein sollten, einfache Fragen mit Hilfe eines BCI zu beantworten. Doch zu seiner Überraschung bekam er aus den Patienten, die bereits längere Zeit im Locked-In-Zustand waren, weder ein Ja noch ein Nein heraus.
Nach einiger Zeit dämmerte ihm, was falsch gelaufen sein könnte. "Wenn ein Mensch fünf Jahre lang in einem solchen Zustand in einem Heim liegt, geht das willentliche Lernen offenbar verloren, auch wenn die Reizverarbeitung des Gehirns vollkommen intakt ist. Das hatte ich nicht bedacht." In einer solchen Situation könne ein Mensch seinen Willen schlicht verlieren. "Ich streite mich oft mit Philosophen über diese Frage, aber bei genauerer Betrachtung ist es außerordentlich simpel", sagt Birbaumer. "Ihr Wille hängt davon ab, dass Ihre Intention gefolgt ist von einer Konsequenz. Wenn es zu lange Perioden gibt, in denen der Gedanke keine Folge hat, geht der Wille verloren."
Birbaumer will diese Hürde demnächst mit einem neuen System überwinden, bei dem das Ja oder Nein wie ein Reflex aus dem Gehirn kommt. "Wenn ich etwa sage: 'Der Name Ihrer Mutter war Carla', dann muss das Ja oder Nein sofort kommen, es darf keine Anstrengung erfordern - wie bei einem Lügendetektor." Sei man erst einmal so weit, könne man mit einem Trainingsprogramm dem Gehirn nach und nach zeigen, "dass es wieder etwas bewirken kann in der Welt".
Betroffene können sich kaum bemerkbar machen
So lasse sich möglicherweise wieder ein Fenster zum Geist der Eingeschlossenen öffnen. "Wie ich das Gehirn kenne, könnte man es auf diese Art innerhalb von einigen Wochen wieder in den Zustand bringen, in denen es Jahre zuvor war", hofft Birbaumer.
Doch dafür müssen sich die als komatös geltenden Locked-In-Patienten erst einmal bemerkbar machen. Wer sich in früheren Jahrhunderten davor ängstigte, lebendig begraben zu werden, konnte etwa verfügen, dass er eine Schnur mit in den Sarg bekam. Am anderen Ende hing ein Glöckchen, das über dem Grab baumelte. Eine solche Glocke gibt es für falsch diagnostizierte Locked-In-Patienten nicht. Auch dass sie ständig von Menschen umgeben sind, hilft ihnen kaum weiter. Denn erneute Bewusstseinstests sind nicht die Regel, die Patienten sind im System der Pflege angekommen.
Was in jemandem vorgeht, der irrtümlich zum Wachkoma-Patienten erklärt wurde, können gesunde Menschen bestenfalls ahnen. "Jeder von uns ist kurzfristig eingeschlossen in den letzten Traumphasen des Morgens", erklärt Birbaumer. "Man kann nichts sagen, nicht schreien. Man hat manchmal die fürchterlichsten Erlebnisse und ist ihnen ausgeliefert. Das spinale Nervensystem ist lahmgelegt, das Gehirn bekommt die Information, dass nichts mehr läuft. Dann passiert das, was man als Alptraum bezeichnet." Dennoch befürchtet Birbaumer nicht, dass Locked-In-Patienten einen permanenten Alptraum durchleben. "Ich glaube, dass auch diese Menschen sich an diesen Zustand anpassen."
Ungleich dramatischer scheint die Situation für jene Menschen zu sein, die bei Bewusstsein eingeschlossen sind, ohne dass ihre Umwelt etwas davon ahnt. Nur wenige können anschließend von diesen Erfahrungen berichten. Der Belgier Rom Houben beschrieb im Gespräch mit dem SPIEGEL seine Gefühle, als er nach seinem schweren Unfall wieder zu sich kam: "Ich habe geschrien, aber es war nichts zu hören."
"Wir wissen nicht einmal, wie diese Menschen sterben"
Genaues aber wird man über den seelischen Zustand der im eigenen Körper Gefangenen nie erfahren, solange nicht mehr von ihnen in der Lage sind, wieder zu kommunizieren. Denn derzeit wisse man über sie "rein gar nichts", sagt Birbaumer. "Wir wissen nicht einmal, wie diese Menschen sterben." Selbst über Patienten, von denen bekannt sei, dass sie gelähmt und bei Bewusstsein sind, gebe es keine offiziellen Statistiken.
Eines aber hält Birbaumer für bewiesen: Wer vollständig gelähmt und künstlich am Leben erhalten wird, ist nicht weniger zufrieden als ein gesunder Durchschnittsmensch. Das hätten Befragungen von Patienten gezeigt, die durch Krankheiten wie die Amyotrophe Lateralsklerose langsam in den Locked-In-Zustand abgeglitten sind. Oft können sie noch ein Auge bewegen oder sich per BCI verständlich machen - und sind dadurch in der Lage, standardisierte Fragen über die persönliche Zufriedenheit zu beantworten.
"Wenn sie sich erst einmal an ihren Zustand gewöhnt haben", so Birbaumer, "äußern sie sich über ihr Leben genauso zufrieden wie jeder andere Mensch." Außenstehende können sich das meist nicht vorstellen. Bei den Befragungen zeigten sich Angehörige und Freunde meist überzeugt, der Patient durchleide Höllenqualen. Die Betroffenen selbst äußerten sich dagegen recht zufrieden. Schließlich, meint Birbaumer, tanzten auch gesunde Menschen nicht ständig euphorisch durchs Leben: "Sind Sie den ganzen Tag happy? Bin ich es? Natürlich nicht!"