Debatte über Aufhebung der Impfpriorität Spritzen für alle

Impfzentrum im Rathaus von Markkleeberg, Sachsen
Foto: Jan Woitas / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Eines müsse jedem klar sein, mahnte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), als er am Montag das Ende der Impfpriorisierung verkündete. Auch wenn ab dem 7. Juni theoretisch jeder einen Termin buchen kann, heißt das nicht, dass jeder sofort einen bekommt. Noch immer warten deutlich mehr Menschen auf die ersehnte Spritze, als Vakzinen auf Halde liegen. »Ich muss weiterhin auch da um Geduld bitten«, sagte Spahn. Man werde bis in den Sommer hinein brauchen, um alle, die wollten, auch impfen zu können.
Allerdings bekommen ab Juni nicht mehr diejenigen Vorrang, die ein erhöhtes Risiko haben, sich anzustecken oder schwer zu erkranken – sei es aufgrund ihres Berufs, ihres Alters, ihrer Lebensumstände. Impfdrängeln wird dann ganz legal. Ist das gerecht?
Was darf über das Ende der Priorisierung bestimmen?
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte am Dienstag in der »Rheinischen Post«, nicht ein Datum dürfe das Ende der ethischen Reihenfolge bei der Impfung bestimmen. Allein der Impffortschritt in den drei Prioritätsgruppen müsse der Maßstab dafür sein. Auch die Ständige Impfkommission (Stiko) warnte davor, die Risikogruppen bei den anstehenden Impfungen zu vernachlässigen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Martin Scherer, kritisierte im SPIEGEL-Interview, der Druck auf die Arztpraxen werde durch den Wegfall der Priorisierung unnötig erhöht .
Ein Blick in die Statistik zeigt, wie wichtig es ist, gerade Risikogruppen zu schützen. Während die Zahl der Infektionen in der dritten Welle erneut nach oben schnellte, starben weniger Menschen. Spahn verteidigte deshalb erneut die Entscheidung, Ältere zuerst zu impfen: »Das war keine Bürokratie, das hat Menschenleben gerettet.«
In Brandenburg ist nur jeder Vierte über 60 vollständig geimpft
Wie viele Menschen aus den Prioritätsgruppen schon geimpft sind, lässt sich allerdings nur schwer beziffern. Eine bundesweit einheitliche Statistik gibt es nicht. Schaut man allerdings allein auf das Alter, das bekanntlich das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf begünstigt, sind noch längst nicht alle Risikogruppen vor dem Virus geschützt.
In Brandenburg haben beispielsweise bisher nur etwa 60 Prozent der Menschen über 60 Jahre zumindest die erste Dosis bekommen, zeigt die aktuelle Übersicht des Robert Koch-Instituts (RKI), nur jeder Vierte dieser Altersgruppe gilt dort als vollständig geimpft. In den anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus. Dabei gehören Menschen ab 60 Jahre in der Regel mindestens in die Prioritätsgruppe 3. Spitzenreiter ist aktuell Bremen. In der Hansestadt sind 81 Prozent der Menschen über 60 Jahre zumindest einmal geimpft, immerhin 38 Prozent haben auch die zweite Spritze bekommen.
Wer sich jetzt noch impfen lassen will und zur Priogruppe gehört, sollte schnell sein, ehe die Konkurrenz ab Anfang Juni weiter zunimmt. Vor allem der Impfstoff von Biontech könnte knapp werden. (Mehr dazu lesen Sie hier .) Noch bleibt den über 60-Jährigen ein Zeitpuffer.
Zuletzt spritzten Hausärztinnen und Mitarbeiter in Impfzentren bundesweit im Schnitt gut 700.000 Dosen pro Tag. Geht das so weiter, könnten bis zur Aufhebung der Priorisierung 14 Millionen Menschen zusätzlich ihre erste oder zweite Spritze erhalten. Zum Vergleich: Seit Beginn der Impfkampagne im Dezember haben etwas mehr als doppelt so viele – etwa 30,7 Millionen Menschen – mindestens eine Dosis erhalten. Allerdings innerhalb von fast fünf Monaten.
Wer in Deutschland mit Priorität geimpft werden soll, entscheiden die Bundesländer. Meist teilen sich die Gruppen in etwa so auf:
Gruppe 1: Alle Menschen über 80 Jahre, medizinisches Personal, Pflegekräfte
Gruppe 2: 70- bis 80-Jährige, Menschen mit Behinderungen, Personal in Kitas und Schulen
Gruppe 3: 60- bis 70-Jährige, Polizei, Feuerwehr, Menschen im Lebensmitteleinzelhandel
Bis Anfang Juni dürfte deshalb noch ein deutlich größerer Teil der Risikogruppen geimpft worden sein. Ein Grund, warum die Priorisierung nun aufgehoben werden soll. Schließlich will niemand Zeit damit verplempern, aufwendig nach den übrig gebliebenen Impfwilligen aus den Risikogruppen zu fahnden, statt unbürokratisch möglichst jede zu immunisieren, die möchte.
Löcher in der Priorisierung
Die Deutsche Gesellschaft für Immunologie hält die bundesweite Aufhebung der Impfpriorisierung deshalb für vertretbar. Der von Bund und Ländern gewählte Zeitpunkt sei durchaus richtig, sagte Generalsekretär Carsten Watzl der »Augsburger Allgemeinen«. »Wir werden natürlich noch nicht jeden aus den Risikogruppen geimpft haben, aber der Übergang muss natürlich fließend sein, damit die Impfkampagne nicht ins Stocken gerät.«
Laut Stiko-Chef Thomas Mertens sei die Priorisierung de facto schon seit einiger Zeit sehr löchrig. Allein im Hamburger Impfzentrum fallen pro Woche bis zu 2000 Vordrängler auf. (Mehr dazu lesen Sie hier.) »Aber wir dürfen nicht vergessen, die Menschen, die es dringend brauchen, auch weiterhin zu impfen«, sagte Mertens dem ARD-»Mittagsmagazin«.
Geht die Rechnung auf?
Ganz wegfallen dürfte die Priorisierung auch Anfang Juni jedoch nicht. Die Länder können noch immer Kontingente für bestimmte Personengruppen zurückhalten. Die Immunisierung vom großen Rest der Impfwilligen könnten dann vor allem Betriebsärzte und Privatärzte übernehmen, die ab dem 7. Juni ebenfalls Impfstoff bekommen sollen. Bisher waren sie allenfalls in Modellprojekte eingebunden.
Die Hausärzte können die vielen Impfanfragen schon jetzt kaum noch bewältigen. Der Vorsitzende des Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, hofft deshalb auf mehr Impfstoff. »Wer bei den Menschen Hoffnungen weckt und mit vollmundigen Stichtagsankündigungen die Illusion nährt, ab dem 7. Juni könne jede und jeder im Land plötzlich von einem Tag auf den anderen geimpft werden, der muss vor allem auch liefern – und zwar Impfstoff in nennenswertem Umfang«, sagte Weigeldt dem Recherchenetzwerk Deutschland (RND). »Ansonsten nämlich geht die Rechnung nicht auf.«
Tatsächlich soll Ende Mai auch erstmals der Impfstoff von Johnson & Johnson an Hausärzte geliefert werden, der nur einmal eingesetzt werden muss. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung geht es um 500.000 Dosen. Dennoch bittet Weigeldt: »Bei allem Verständnis dafür, dass jede und jeder jetzt so schnell wie möglich drankommen will, habt Geduld!«
Mit Material von Agenturen