Aufregung nach Metastudie Wie tödlich ist Covid-19?

Aufnahme eines Elektronenmikroskops des Coronavirus Sars-CoV-2: Die Infektionssterblichkeit lässt sich erheblich beeinflussen
Foto: narvikk / Getty Images/iStockphoto"Neue WHO-Studie erstaunt selbst Experten - so tödlich ist das Virus wirklich": Schlagzeilen wie diese konnten in den vergangenen Tagen den Eindruck erwecken, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) halte Covid-19 inzwischen für weniger gefährlich. Doch das ist ein Irrtum.
Worum geht es in der Studie?
Anlass für die aktuelle Diskussion sind erste Forschungsergebnisse des renommierten Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University, die auf der Webite des "Bulletin of the World Health Organization" erschienen sind - ein wissenschaftliches Magazin, das von der WHO herausgegeben wird. Die WHO weist jedoch selbst darauf hin, die Forschungsergebnisse in dem Fachblatt spiegelten die Ansicht der Forscher wider, nicht die der WHO. Dennoch wird über die Analyse mittlerweile als "WHO"-Studie diskutiert. Die Veröffentlichung enthält den Hinweis, die erste Onlineversion der Studie sei begutachtet worden, enthielte aber noch nicht alle finalen Korrekturen.
Ioannidis hatte für die Analyse 61 Studien aus der ganzen Welt sowie nationale Angaben zur Sterblichkeit von Covid-19 analysiert. Demnach lag die Infektionssterblichkeit im Mittel aller ausgewerteter Studien bei etwa 0,23 Prozent. Das heißt, im Mittel starben 23 von 10.000 Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten.
"Die abgeleiteten Infektionssterblichkeiten lagen tendenziell niedriger als die Schätzungen, die früher in der Pandemie gemacht wurden", schlussfolgert Ioannidis. Erste Daten aus China hätten die Infektionssterblichkeit auf 3,4 Prozent geschätzt. Inzwischen gingen mathematische Modelle von etwa einem Prozent aus.
Der nur scheinbare Widerspruch
Einige Medien verwiesen daraufhin auf die vom Robert Koch-Institut (RKI) angegebene Fallsterblichkeit, die laut dem täglichen Lagebericht vom Montag bei etwa 2,7 Prozent liegt – also mehr als zehnmal so hoch wie der Wert von Ioannidis. Dadurch kann der Eindruck eines Gelehrtenstreits entstehen, den es allerdings überhaupt nicht gibt.
Denn der Widerspruch zur offiziellen RKI-Statistik besteht nur scheinbar. Um das tödliche Potenzial einer Krankheit zu bemessen, lassen sich zwei Parameter heranziehen:
Die Infektionssterblichkeit, kurz IFR: Sie gibt an, wie hoch der Anteil der Verstorbenen gemessen an allen Infektionen ist. Dieser Wert wird auch in der aktuellen Studie untersucht.
Die Fallsterblichkeit, kurz CFR: Sie gibt an, wie hoch der Anteil der Verstorbenen an allen – und dieses eine Wort macht den entscheidenden Unterschied - bekannten Infektionen ist. Auf diesen Wert bezieht sich das RKI im täglichen Lagebericht.
Da eine Infektion mit Sars-CoV-2 ohne Symptome verlaufen kann und längst nicht in allen Ländern umfangreich getestet wird, bleiben weltweit viele Infektionen wahrscheinlich unentdeckt. Dadurch ist die Fallsterblichkeit der Definition nach höher als die Infektionssterblichkeit. Warum wird sie dann überhaupt benutzt?
Wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich aktuell nur schwer sagen. Laut WHO könnten sich weltweit zwanzigmal mehr Menschen angesteckt haben als nachgewiesen . Allerdings handelt es sich auch bei dieser Zahl allenfalls um eine grobe Schätzung.
Aufschluss über die Dunkelziffer könnten Antikörper gegen das Virus im Blut von Menschen geben. Werden sie gefunden, hat derjenige eine Infektion sehr wahrscheinlich durchgemacht - womöglich ohne es selbst zu bemerken. In Deutschland ist im Oktober eine Antikörperstudie des RKI und des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) angelaufen, an der 34.000 Menschen teilnehmen. Sie soll klären, wie viele Menschen sich in Deutschland tatsächlich mit dem Virus infiziert haben.
Auch solche Antikörperstudien sind nicht perfekt, weil offenbar längst nicht alle, die nachweislich mit dem Coronavirus infiziert waren, auch messbare Antikörper bilden . Aber sie sind derzeit die beste Chance, die Dunkelziffer zu beleuchten.
"Ein Todesfall mehr oder weniger, der erfasst wird, fällt da richtig ins Gewicht"
Bisher publizierte Antikörperstudien basieren allerdings häufig auf niedrigen Fallzahlen. Das zeigt sich bei der sogenannten Heinsberg-Studie, die auch in die aktuelle Metaanalyse eingeflossen ist und die Infektionssterblichkeit auf etwa 0,37 Prozent beziffert. Die Hochrechnung basiert allerdings nur auf einer Handvoll Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion.
"Ein Todesfall mehr oder weniger, der erfasst wird, fällt da richtig ins Gewicht", sagte Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig nach der Veröffentlichung der Heinsberg-Studie vor gut einem halben Jahr. Er empfahl deshalb, die Todesursache genauer zu untersuchen. Womöglich sei die Infektionssterblichkeit zu niedrig eingeschätzt worden, weil kaum Seniorenheime betroffen waren.
Vor knapp einem Monat hatte auch der Epidemiologe Rod Jackson in einem Gastbeitrag für den "NZ Herald" betont, Antikörperstudien seien nur aussagekräftig, wenn die Stichprobe repräsentativ für die Bevölkerung ist. Auswertungen aus Neuseeland und Island seien wenig hilfreich, da dort bisher nur wenige Covid-19-Todesfälle gemeldet wurden. "Studien mit weniger als mehreren Hundert Covid-19-Todesfällen lohnen kaum den Blick hinein", so Jackson.
Ioannidis hat in seiner aktuellen Metaanalyse Studien mit über 500 Stichproben berücksichtigt, nicht alle - darunter auch die Heinsberg-Studie - waren repräsentativ für die gesamte Bevölkerung. Hat er also wissenschaftlich unsauber gearbeitet?
Kein fester Messwert
Ziel von Ioannidis war es nicht, eine weltweit gültige Infektionssterblichkeit zu ermitteln. Das ist auch gar nicht möglich. Die Infektionssterblichkeit ist kein fester Messwert, der einmal für eine Krankheit berechnet auf der ganzen Welt seine Gültigkeit behält. Er hängt von vielen Faktoren ab.
Tatsächlich war die Sterblichkeit nach ersten Daten aus China am Anfang der Pandemie zunächst höher eingeschätzt worden – wie Ioannidis zu Recht anmerkt. Damals war nur wenig über Covid-19 bekannt. Inzwischen ist klar, dass ein großer Teil der Infizierten nur milde oder keine Symptome hat. Zudem können sie das Virus wahrscheinlich schon weitergeben, bevor sie überhaupt etwas von der Infektion bemerken.
Auch Ioannidis betont, wie sehr die Sterblichkeit variiert – je nachdem, ob sich vor allem ältere Menschen infizieren, wie gut die medizinische Versorgung ist, wie hoch der Anteil der Menschen mit Vorerkrankungen in der Bevölkerung ist. So schwankte die Infektionssterblichkeit bei den von ihm ausgewerteten Studien zwischen null und 1,63 Prozent.
Noch liegen keine Ergebnisse der in Deutschland geplanten repräsentativen Antikörperstudie vor. Wie hoch die Infektionssterblichkeit hierzulande aktuell ist, lässt sich deshalb nur schwer abschätzen.
Erst kürzlich veröffentlichte ein Forschungsteam um Andrew Levin vom Dartmouth College Ergebnisse einer weiteren Metaanalyse , laut der die Infektionssterblichkeit für Covid-19 in den USA bei etwa 0,8 Prozent liegen könnte. Auch Virologe Christian Drosten bezog sich im NDR-Podcast auf diese Studie. Weil die Bevölkerung hierzulande etwas älter sei als in den USA, hält Drosten eine Infektionssterblichkeit von etwa einem Prozent für Deutschland oder etwas darüber für plausibel. "Ich bin kein Demograf, das kann ich auch nur überschlagen", schränkte der Virologe jedoch ein.
Auch wenn sich die Infektionssterblichkeit in Deutschland aktuell nur schwer genau beziffern lässt, ist klar, wie stark sie sich beeinflussen lässt. Das zeigt auch die Analyse aus den USA. Werden ältere Menschen vor einer Ansteckung mit Covid-19 geschützt, lässt sich die Infektionssterblichkeit demnach mehr als halbieren - von 0,8 auf 0,3 Prozent .
Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version dieses Textes war von WHO-Studie die Rede. Die WHO hat inzwischen klargestellt: Sie ist zwar Herausgeber der Studie. Die Ergebnisse würden aber nur die Ansicht der Forscher widerspiegeln, nicht die der WHO. Laut WHO nähern sich mehrere Studien zur Covid-19-Mortalität einer Infektionssterblichkeit von 0,6 Prozent an - was viel höher ist als bei der saisonalen Grippe.