B.1.617 Großbritannien stuft Mutante aus Indien als »besorgniserregend« ein

Großbritannien registriert immer häufiger Infektionen mit der aus Indien bekannten Mutante B.1.617 – auch bei Geimpften. Was heißt das für Deutschland?
Straße in Manchester: Die Zahl der Infektionen mit der Mutante B.1.617 ist in Großbritannien sprunghaft angestiegen

Straße in Manchester: Die Zahl der Infektionen mit der Mutante B.1.617 ist in Großbritannien sprunghaft angestiegen

Foto: Jon Super / dpa

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Weil sich die aus Indien bekannte Coronavariante auch in Großbritannien ausbreitet und es zunehmend Hinweise auf lokale Ausbrüche gibt, stuft die britische Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) sie nun als »besorgniserregend« ein. Zuvor stand die Mutante nur unter Beobachtung. Britische Medien hatten bereits übereinstimmend über den Schritt berichtet. Die Entscheidung könnte auch Einfluss auf die Einschätzung der Lage in Deutschland haben.

In Großbritannien ist bereits ein Großteil der Bevölkerung geimpft , die Infektionszahlen sind deutlich gesunken. Eine Entwicklung, die sich auch in Deutschland abzeichnet. Wenn in Großbritannien neue Varianten trotzdem zu einer erneuten Infektionswelle führen sollten, dürfte das auch hierzulande bald der Fall sein. Allerdings ist noch unklar, wie gefährlich die Variante mit der Abkürzung B.1.617 ist.

Was macht eine Variante »besorgniserregend«?

Weltweit beobachten Wissenschaftler die Ausbreitung neuer Virusvarianten. Da der Erreger ständig mutiert, gibt es inzwischen unzählige. Die meisten bereiten Forscherinnen und Forschern jedoch keine Sorgen. Breitet sich eine Mutante allerdings deutlich schneller aus als andere, gilt sie zunächst als »Variante unter Beobachtung«, im Englischen »variant of interest«, abgekürzt mit VOI.

Diese Varianten gelten in Deutschland momentan als besorgniserregend:

B.1.1.7: Erstmals in Großbritannien bekannt geworden, verbreitete sie sich rasant weltweit. Laut RKI ist sie noch leichter von Mensch zu Mensch übertrag als bisherige Varianten, wodurch sie sich schwerer eindämmen lässt. Sie macht derzeit 91 Prozent der Infektionen in Deutschland aus. Bislang gibt es jedoch keine Hinweise, dass sie auch die Wirksamkeit der Impfstoffe deutlich herabsetzt.

B.1.351: Auch bekannt als »Südafrika-Variante«, weil sie dort zuerst nachgewiesen worden ist. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass die Variante vermehrt zu Reinfektionen bei Genesenen führen und auch die Wirksamkeit von Impfstoffen herabsetzen könnte.

P.1: Sie ähnelt der Variante aus Südafrika, wurde aber erstmals in Brasilien nachgewiesen. Sorge bereitet auch hier vor allem die Mutation E484K, die die Wirksamkeit von Impfungen herabsetzen könnte. P1 hatte sich zudem massiv im brasilianischen Manaus ausgebreitet, obwohl sich dort schon ein erheblicher Teil der Bevölkerung mit dem Coronavirus angesteckt hatte. In Deutschland kommt sie bislang kaum vor.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prüfen dann, ob sie womöglich ansteckender ist oder möglicherweise Geimpfte und Genesene erneut infizieren kann. Verdichten sich die Hinweise darauf, wird sie als »besorgniserregende Variante« hochgestuft, im internationalen Sprachgebrauch ist dann von »variants of concern« die Rede, kurz VOC. Schon am Freitagmorgen berichteten unter anderem BBC  und »Guardian« , dass dieser Schritt im Fall von B.1.617 in Großbritannien kurz bevorsteht. Inzwischen hat PHE den Schritt bestätigt.

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Die Variante wurde erstmals in Indien nachgewiesen und hatte sich schnell verbreitet . Das spricht dafür, dass die Mutante ansteckender sein könnte. Zudem gibt es den Verdacht, sie könnte womöglich die Immunantwort aushebeln und dadurch auch Geimpfte und Genesene erneut infizieren.

Laut Medienberichten breitet sich vor allem einer von drei Subtypen rasant in Großbritannien aus, B.1.617.2. Mittlerweile seien mehr als 500 Fälle bekannt, vor allem aus London und dem Nordwesten Englands – ein deutlicher Zuwachs. Bis Mitte vergangener Woche waren nur knapp 200 Infektionen mit der Variante dokumentiert worden.

Wo sich die Betroffenen angesteckt haben, ist unklar. Laut ersten Erkenntnissen ist die Variante aber nicht nur bei Reisenden aus Indien oder deren Kontaktpersonen nachgewiesen worden. Das spricht dafür, dass sich die Mutante nun auch lokal verbreitet.

15 Geimpfte in Londoner Pflegeheim infiziert

Laut internen Dokumenten der britischen Gesundheitsbehörde PHE hatten sich auch 15 Menschen in einem Londoner Pflegeheim infiziert, die bereits zweimal mit dem Impfstoff von AstraZeneca geimpft worden waren. Das muss jedoch nicht heißen, dass die Vakzine gegen die Variante nicht wirkt.

Die Betroffenen hatten die zweite Dosis erst wenige Tage vor dem Ausbruch bekommen. Ab diesem Zeitpunkt kann noch nicht von einem vollständigen Schutz ausgegangen werden. Zudem könnte der Impfstoff schwere Verläufe verhindert haben. So mussten zwar vier der Betroffenen im Krankenhaus behandelt werden, sie waren jedoch nicht schwer an Covid-19 erkrankt.

Was die Variante B.1.617 potenziell gefährlich macht, ist ein Mix aus zwei Mutationen, »E484Q« und »L452R«. Sie ist deshalb auch als »Doppelmutante« bekannt, weist aber noch deutlich mehr Genveränderungen auf. Was genau diese Mutationen bewirken, können Forschende noch nicht genau sagen. Allerdings ist die Variante womöglich auf gleich zwei Wegen gefährlicher als der Ursprungstyp des Virus:

  • Die Genveränderungen könnten es dem Virus leichter machen, an menschliche Zellen anzudocken und in diese einzudringen. Der Erreger würde dadurch ansteckender. Dafür spricht auch, dass sich die Mutante in Indien sehr schnell ausgebreitet hat.

  • Geimpfte und Genesene sind normalerweise vor einer erneuten Infektion mit dem Coronavirus gewappnet, weil ihr Immunsystem den Erreger bereits kennt und ihn gezielt ausschalten kann. Die nun aufgetretenen Mutationen verändern das Virus jedoch leicht, wodurch es der Immunabwehr womöglich entkommen kann. Solche Genveränderungen werden auch Fluchtmutationen genannt. Im schlimmsten Fall könnten durch sie auch Geimpfte und Genesene erneut schwer erkranken. Die Pandemie würde von vorn beginnen. (Mehr dazu lesen Sie hier .)

Mehr als 400.000 Neuinfektionen – am Tag

Wie gefährlich B.1.617 tatsächlich ist, lässt sich jedoch im Moment noch nicht sicher abschätzen. Alarmiert sind Forschende vor allem wegen der dramatischen Situation in Indien. Zuletzt verzeichnete Indien 414.188 Neuinfektionen pro Tag – ein neuer Höchststand. Das Gesundheitssystem ist vielerorts überlastet. Indiens Chefvirologe Shahid Jameel hält es für möglich, dass sogar bis zu 900.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet werden könnten. In Indien leben mehr als 1,3 Milliarden Menschen.

DER SPIEGEL

B.1.617 allein kann Situation in Indien nicht erklären

Welchen Anteil die neue Variante B.1.617 an dem erheblichen Anstieg hat, lässt sich jedoch nur schwer abschätzen. In Indien wird nicht umfassend sequenziert. Klar ist jedoch: Es kursieren auch weiterhin andere Varianten. So hatte sich ab Januar auch die ansteckendere Variante B.1.1.7 in Indien ausgebreitet, die zunächst in Großbritannien nachgewiesen worden war.

Laut Virologe Jameel  sollten sich die Menschen in Indien ohnehin weniger Sorgen um Mutationen machen, sondern sich besser vor dem Virus schützen und konsequent Maske tragen. Die Regierung müsse endlich Massenveranstaltungen verhindern, die wahrscheinlich zu einer erheblichen Ausbreitung des Virus beigetragen haben.

Bisher wenige Dutzend Fälle mit B.1.617 in Deutschland

In Deutschland ist die Variante B.1.617 bisher kaum vertreten, nur etwa 64 Fälle sind bekannt . Weil nicht klar ist, ob die Mutante tatsächlich ansteckender ist und vermehrt zu Reinfektionen führt, fehlt es laut Robert Koch-Institut (RKI) »gegenwärtig an gesicherten Erkenntnissen«, um diese Variante als »besorgniserregend« einzustufen. Sie gilt deshalb vorerst weiterhin als »Variante unter Beobachtung«.

Hierzulande dominiert weiterhin deutlich die Variante B.1.1.7, die laut dem aktuellen Bericht des RKI 91 Prozent der Infektionen in Deutschland ausmacht und die auch in anderen Ländern zu einem erheblichen Anstieg der Infektionszahlen geführt hat.

Wie lange die Welt mit der Pandemie zu kämpfen haben wird, hängt auch davon ab, ob das Virus einen Weg findet, dem Immunschutz zu entkommen. Gerade in Ländern, in denen Impfkampagnen Fahrt aufnehmen, die Zahl der Infektionen aber weiterhin hoch ist, steigt die Chance für solche Fluchtmutationen, warnen Forscher. Corona-Beschränkungen, mehr Impfungen weltweit und konsequentes Testen, Nachverfolgen und Isolieren von Verdachtsfällen – gerade bei Auslandsreisen – seien deshalb der beste Weg, Mutationen zu verhindern.

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