Debatte über Verteilung Warum nicht zuerst die Jüngeren geimpft werden sollten

Covid-19-Impfstoff: Wie verlässlich das Pfizer-Biontech-Produkt Ansteckungen verhindert, ist unklar
Foto: Tetra Images / Getty ImagesIn der dritten Novemberwoche könnten die Pharmafirmen Pfizer und Biontech nach eigenen Angaben in den USA eine Notfallzulassung für den ersten in einer Phase-III-Studie geprüften Corona-Impfstoff beantragen. Am Montag hatten sie bekannt gegeben, ihre RNA-Vakzine habe einer ersten Zwischenauswertung zufolge 90 Prozent Wirksamkeit gezeigt (mehr dazu lesen Sie hier).
Nach der Erfolgsmeldung wird nun intensiv diskutiert, wer einen zugelassenen Impfstoff als Erstes bekommen sollte. Denn fest steht: Selbst wenn die Hersteller noch vor einer Zulassung beginnen, in großem Maßstab Impfdosen zu produzieren, wird nicht genug Impfstoff und nicht genug Personal zur Verfügung stehen, um die breite Bevölkerung innerhalb einiger Monate zu versorgen.
Bislang lautete der Tenor, dass Risikogruppen und Medizinpersonal zuerst immunisiert werden müssten. So steht es etwa in ersten Empfehlungen der Impfkommission, der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und des Ethikrats. Allerdings werden nun auch Stimmen laut , den Jüngeren bei der Verteilung Vorrang zu gewähren. Der Vorschlag ist in der aktuellen Situation allerdings wenig zielführend. Es gibt zwei entscheidende Probleme.
1. Schutz vor Infektionen unklar
Der Vorstoß basiert auf einer Modellrechnung, in der von einem perfekten Impfstoff ausgegangen wird. Forscherinnen um Laura Matrajt vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in den USA haben die Analyse vorab als PDF ins Netz gestellt. "Wir nehmen einen Impfstoff an, der die Anfälligkeit für Infektionen verringert", schreiben sie darin. Inwiefern der Pfizer-Biontech-Impfstoff BNT162b2 dazu in der Lage ist, ist allerdings noch völlig unklar.
Die nach der ersten Zwischenauswertung genannte Wirksamkeit der Vakzine von mindestens 90 Prozent bezieht sich lediglich auf die Frage, wie gut der Impfstoff Covid-19-Erkrankungen verhindert. Allerdings entwickeln längst nicht alle Sars-CoV-2-Infizierten tatsächlich Symptome. Somit lässt sich nicht sagen, wie verlässlich der Impfstoffkandidat Ansteckungen mit dem Virus verhindert und somit dessen breite Ausbreitung eindämmen würde.
Das wird aktuell von keinem der Hersteller überprüft, die an Corona-Impfstoffen arbeiten, denn das herauszufinden, ist sehr aufwendig. Für den Nachweis müssten alle Probanden der aktuell laufenden großen Phase-III-Studien mit mehreren Zehntausend Probanden in sehr kurzen Abständen immer wieder auf eine Sars-CoV-2-Infektion getestet werden. Würde sich dabei zeigen, dass unter Probanden, die nur ein Placebo erhalten haben, deutlich mehr Infektionen auftreten als unter Geimpften, wäre abschätzbar in welchem Umfang die Impfung vor Infektionen schützt.
Bis ein Impfstoff zugelassen wird, muss er in drei Phasen klinisch geprüft werden. Damit das Paul-Ehrlich-Institut einen potenziellen Impfstoff für eine klinische Studie am Menschen zulässt, muss ein Hersteller zunächst Daten vorlegen, dass der Stoff bereits ausreichend präklinisch getestet wurde – etwa in Tierversuchen.
Phase I: Der Impfstoff wird einer kleinen Gruppe von freiwilligen Gesunden verabreicht. Es wird beobachtet, ob das Mittel den Zielbereich im Körper erreicht und dabei keine akuten Nebenwirkungen auftreten.
Phase II: Erst wenn die Phase I erfolgreich war, kann der Impfstoff in Phase II einer größeren Teilnehmerzahl verabreicht werden, die der Risikogruppe entstammen. Im Fall von Covid-19 wären das ältere Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen. In dieser Phase werden die Wirksamkeit des Impfstoffs bei der Verhinderung der Krankheit und die geeignete Dosierung getestet.
Phase III: Danach kann der Impfstoff an einer repräsentativen Gruppe von Freiwilligen getestet werden – bis zu 10.000 Probanden werden dabei geimpft. In Phase III werden die Wirksamkeit, die Sicherheit sowie die Dosierung der Impfung bestätigt. Unerwünschte Ereignisse, wie etwa ein besonders schwerer Krankheitsverlauf durch die Gabe des Impfstoffs, können ausgeschlossen werden.
Aktuell geht es den Herstellern allerdings darum, schnellstmöglich ein Mittel zu entwickeln, das sicher ist und zumindest Erkrankungen mit relativ großer Zuverlässigkeit verhindert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt als Ziel für die Corona-Impfung eine Wirksamkeit von mindestens 50 Prozent. Das ist ein ähnlicher Wert wie bei der Grippeschutzimpfung. Impfungen, die beispielsweise wie die Masernimpfung imstande sind, eine Herdenimmunität sicherzustellen, sind schwerer und in manchen Fällen gar nicht zu finden.
2. Jüngere lassen sich nicht auf einen Schlag durchimpfen
Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Pfizer-Biontech-Impfstoff nicht nur Covid-19-Erkrankungen verlässlich verhindert, sondern auch sehr effektiv vor Corona-Infektionen schützt, empfehlen die amerikanischen Forscherinnen auf Basis ihrer Modellrechnung nicht, die jüngere Bevölkerung bei der Impfstoffverteilung von Anfang an zu priorisieren.
Mit Blick auf einen fiktiven Impfstoff, der Infektionen zu mindestens 60 Prozent verhindert, schreiben die Wissenschaftlerinnen: "Bei geringer Verfügbarkeit besteht die optimale Zuteilung immer noch darin, zuerst die Hochrisikogruppen zu impfen." Erst wenn so viel geimpft werden könne, um ungefähr die Hälfte der Bevölkerung zu immunisieren, sei es sinnvoll, zuerst die jüngeren unter 50 zu impfen.
Der Gedanke dahinter ist einleuchtend: Jüngere Menschen haben in der Regel viele Kontakte und stecken damit potenziell eine ganze Reihe weiterer Personen an. Das Problem zeigt sich immer wieder auch während der aktuellen Pandemie: Zirkuliert das Virus breit in der jüngeren Bevölkerung, ist es unmöglich, es von der meist älteren Risikogruppe fernzuhalten.
Würde man jüngere Menschen mit vielen Kontakten zuerst impfen, so also die Idee, könnten diese ihrem Beruf und Freizeitaktivitäten nachgehen und würden das Virus gleichzeitig nicht in die Risikogruppe tragen. Da es nach der Impfstoffzulassung jedoch nicht genug Wirkstoff geben wird, um die Ausbreitung des Virus unter Jüngeren in großem Umfang einzudämmen, funktioniert das Prinzip nicht.
Dann gilt weiterhin: Solange sich zu viele jüngere Menschen infizieren, lassen sich die Risikogruppen nicht schützen. Sie zuerst zu impfen, steht bis dahin im Fokus. Die Impfkommission, die Leopoldina und der Ethikrat werden sich mit der konkreten Ausgestaltung der Regeln für die Impfstoffvergabe in den kommenden Wochen weiter befassen.
Hoffnung auf genauere Studiendaten
Bis die erste reguläre Impfdosis in Deutschland verteilt wird, wird es allerdings noch einige Monate dauern. Zunächst muss ein Impfstoff zugelassen werden. In Europa gelten dafür strengere Regeln als in der USA.
Statt einer Notfallzulassung gibt es die Möglichkeit, einen Impfstoff im beschleunigten Zulassungsverfahren zuzulassen. Die European Medicines Agency (Ema) prüft Studiendaten in dem Prozess fortlaufend statt gesammelt nach Abschluss aller Untersuchungen. Es müssen die gleichen Nachweise erbracht werden wie für die reguläre Zulassung.
Dabei wird es unter anderem um die Frage gehen, wie gut der Impfstoff BNT162b2 besonders schwere Covid-19-Verläufe verhindert. Das gerade veröffentlichte Zwischenergebnis basiert auf 94 Covid-19-Fällen, die hauptsächlich in der Placebo-Gruppe aufgetreten sind. Allerdings ist unklar, wie viele schwere Erkrankungen darunter waren. Die Daten sind noch nicht öffentlich.
Eine weitere zentrale Frage wird sich zudem erst mit größerem Abstand beantworten lassen: Wie lange die Immunität nach einer Impfung anhält. Sollte der Schutz nach einigen Monaten wieder verschwinden, wäre es sehr aufwendig, die breite Bevölkerung in solch kurzen Abständen wiederholt zu impfen. Auch das spricht bei der Impfstoffverteilung für einen Fokus auf Risikogruppen und Menschen, die mit ihnen im engen Kontakt stehen.