Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen Die Zeitfrage

Vor gut einer Woche beschlossen Bund und Länder schärfere Corona-Maßnahmen. Ob sie wirken, soll nach zehn Tagen überprüft werden. Wie sinnvoll ist dieser Zeitrahmen und welche Regionen müssten nachbessern?
Restaurant in Frankfurt am Main: Knapp jeder dritte Kreis in Deutschland hat laut RKI-Statistik bereits die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gerissen

Restaurant in Frankfurt am Main: Knapp jeder dritte Kreis in Deutschland hat laut RKI-Statistik bereits die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gerissen

Foto:

Boris Roessler / dpa

"Momentan können wir es uns selbst nicht erklären", sagte Bernhard Kern im Interview mit dem SPIEGEL über die massiv gestiegenen Infektionszahlen in seinem Landkreis. Dem Landrat von Berchtesgaden fällt gerade die unangenehme Aufgabe zu, eine Region erneut in den Corona-Shutdown zu schicken - auch wenn er selbst den Begriff nicht mag. (Das ganze Interview lesen Sie hier ).

Nirgendwo sonst hatten sich binnen sieben Tagen so viele Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert wie in dem oberbayerischen Landkreis, gemessen pro 100.000 Einwohner. Kitas und Schulen bleiben nun bis auf eine Notbetreuung geschlossen. Nur wer einen triftigen Grund hat, darf vor die Tür. Die Regeln gelten vorerst für zwei Wochen. Angesichts der inzwischen deutschlandweit ansteigenden Infektionen (am Donnerstag wurden erstmals mehr als 10.000 gemeldet) steht die Frage im Raum: Ist Berchtesgaden ein Vorbote für andere Regionen?

Dort lässt sich beobachten, was das Robert Koch-Institut (RKI) ein "diffuses Infektionsgeschehen" nennt. Denn wo und wie sich die Menschen dieser Region angesteckt haben, ist nicht nachzuvollziehen. Zunächst war die Rede von einer Garagenparty. Eine Feier allein könne die Zahlen laut dem zuständigen Gesundheitsamt aber nicht erklären. Ministerpräsident Markus Söder brachte am Mittwochmorgen im ZDF  die Grenznähe zu Österreich als mögliche Ursache für den Ausbruch ins Spiel.

Um das Virus einzudämmen, einigten sich Bund und Länder vor knapp einer Woche auf eine Art Ampelsystem, ohne es so zu nennen. Spätestens, wenn die Zahl der neu gemeldeten Infektionen binnen sieben Tagen auf 35 oder 50 pro 100.000 Einwohner steigt, sollen härtere Maßnahmen beschlossen werden. Inzwischen hat ganz Deutschland diese Marke im Mittel überschritten. Dass auch Spitzenpolitiker trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht vor einer Infektion gefeit sind, zeigt der positive Corona-Test von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Bremsen oder stoppen auch die strengeren Corona-Maßnahmen das Wachstum nicht, sollen weitere Einschränkungen folgen. Wie genau die aussehen, lässt der Beschluss offen. Lediglich von einer Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum auf fünf Personen aus zwei Haushalten ist die Rede.

Worauf sich Bund und Länder geeinigt haben

  • Feiern zu Hause maximal noch mit 15 Personen, im öffentlichen Raum liegt die Zahl bei maximal 25.

  • Ergänzende Maskenpflicht im öffentlichen Raum, überall dort, wo Menschen eng zusammenkommen.

  • Sperrstunde in der Gastronomie, eine genaue Uhrzeit ist nicht vorgeschrieben.

  • Die Zahl der Teilnehmer bei Veranstaltungen soll weiter begrenzt werden.

Bayern führt weiteren Grenzwert bei 100 ein

Für etliche Regionen kommen diese Regeln zu spät. In 30 Kreisen liegt die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner laut RKI bei über 100, darunter sind mehrere Stadtteile Berlins. Bayern hat bereits einen neuen Inzidenzwert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner eingeführt. Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen werden dann untersagt, die Sperrstunde soll schon ab 21 Uhr gelten.

Anders als im Frühjahr breitet sich das Virus nun nicht nur von einigen Orten aus, der Erreger ist überall - schon seit Wochen. Seit Juli ist die Zahl der Kreise ohne bekannte Corona-Infektion kontinuierlich gesunken. Woran das genau liegt, lässt sich nur schwer sagen. Zu der Zeit haben in vielen Bundesländern die Sommerferien begonnen, gleichzeitig ist die Zahl der Tests gestiegen. Aktuell hat laut RKI nur noch ein einziger von 412 Kreisen in Deutschland keinen Corona-Fall in den vergangenen sieben Tagen gemeldet, der Landkreis Wittmund in Ostfriesland.

Allein von Montag auf Dienstag haben weitere 21 Landkreise die entscheidende Schwelle von 50 Neuinfektionen überschritten. Damit ist inzwischen schon fast jeder dritte Kreis betroffen. Für sie stellt sich nun die Frage, wie es in den kommenden Tagen weitergeht und welche Maßnahmen daraus resultieren.

Schwerwiegende Verzögerung

Ein entscheidendes Kriterium dafür ist der Beobachtungszeitraum. Doch wie sinnvoll ist die von Bund und Ländern vereinbarte Zeitspanne von zehn Tagen? "Wir wissen, wenn wir heute eine Maßnahme treffen, dann sehen wir den Effekt erst in zwei bis drei Wochen", sagte RKI-Präsident Lothar Wieler im Interview mit Phoenix .

Kanzlerin Angela Merkel erklärte dagegen während der Presskonferenz nach dem Treffen zwischen Bund und Ländern: "Wir wissen, dass die Zahlen von heute im Grunde das Geschehen von vor etwa zehn Tagen widerspiegeln. Das heißt, wenn ich neue Maßnahmen einführe, muss ich wieder gut zehn Tage warten, um dann beurteilen zu können, ob ich die Infektionsdynamik gestoppt beziehungsweise verringert habe."

Wie genau es zu der Zehntagesregel kam, lässt sich im Nachhinein nur schwer nachvollziehen, Anfragen des SPIEGEL führen ins Leere. Das RKI äußert sich nicht zu politischen Entscheidungen, das Bundesgesundheitsministerium verweist an die Bundesländer, Berlin, das gerade den Vorsitz in der Ministerpräsidentenkonferenz hat, verweist an das Bundespresseamt und das verweist auf die Aussagen von Kanzlerin Angela Merkel.

Die wahrscheinlichste Erklärung für die unterschiedlichen Aussagen: Die Statistik des RKI hinkt den örtlichen Zahlen der Gesundheitsämter einige Tage hinterher, weil Zeit vergeht, bis die regionalen Daten beim RKI eingehen und dort ausgewertet werden. Das ist auch der Grund dafür, warum der Landkreis Lüchow-Dannenberg in der Statistik des RKI vom Dienstag noch als Corona-frei galt, obwohl auch dort Anfang der Woche neue Fälle gemeldet wurden.

Um Meldeverzögerungen zu umgehen, bezieht sich Hamburg inzwischen direkt auf die Angaben der Gesundheitsämter. Dadurch seien die Zahlen genauer und aktueller, heißt es auf der Website der Hansestadt . Bis die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen beim RKI ankommt, könne eine Woche vergehen, schätzt Wieler. Kein Wunder also, dass er einen längeren Zeitraum für sinnvoll hält, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu überprüfen.

Angesichts der rasant steigenden Fallzahlen mehren sich inzwischen aber Stimmen, weitere Beschränkungen nicht lange hinauszuzögern. "Neben den gemeldeten Neuinfektionen gibt es Frühindikatoren, die zeigen, wie sich die Maßnahmen auswirken", sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach dem SPIEGEL. Landesgesundheitsämter stünden in engem Kontakt mit Labors und wüssten deshalb häufig schon, wie viele der durchgeführten Tests positiv waren, ehe das für jeden ersichtlich in der Statistik auftaucht.

DER SPIEGEL

"Nur auf Partys zu verzichten, reicht nicht"

Ist die Zehntagesregel also eventuell auch schon überholt? Muss eventuell sogar in noch kürzeren Zeiträumen gedacht werden? Ob sich die Pandemie eindämmen lässt, hängt laut Lauterbach vor allem davon ab, ob die Menschen in Deutschland ihre Kontakte einschränken. Das lasse sich frühzeitig anhand von Mobilfunkdaten erkennen. "Viele glauben, es reicht, auf Hochzeiten und große Feiern zu verzichten", so Lauterbach. "Allein damit lässt sich das Wachstum jedoch nicht stoppen, über diesen Punkt sind wir hinaus." Laut Modellierungen müsste jeder im Schnitt seine Kontakte um etwa ein Drittel bis die Hälfte reduzieren. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Vor Kurzem hatte Merkel mit ihrer Warnung, bis Weihnachten könnten pro Tag 19.200 Neuinfektionen gemeldet werden, für Aufsehen gesorgt. Angesichts der aktuellen Entwicklung hält Lauterbach diese Rechnung sogar für zu optimistisch. Die Fallzahlen seien zuletzt deutlicher schneller gestiegen, als von Merkel prognostiziert.

120.000 Neuinfektionen pro Tag im Dezember?

Geht das so weiter, könnten bis zum 21. Dezember rechnerisch sogar 120.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet werden, so Lauterbach. Eine ähnliche Rechnung hatte auch Olaf Gersemann von der "Welt"  aufgemacht. "Wir hätten dann vielleicht zusätzlich viele Tausende Tote bis Weihnachten, wenn unser Gesundheitssystem die neuen Fälle nicht mehr versorgen könnte", so Lauterbach. "Das zeigt, dass dringend etwas passieren muss."

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Externer Inhalt

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Pandemie außer Kontrolle?

Durch die steigenden Fallzahlen könnte zudem ein Mittel zur Bekämpfung der Pandemie wegbrechen: die Kontaktnachverfolgung. "Viele Gesundheitsämter dürften überlastet sein, wenn sie mehr als 50 neue Fälle je 100.000 Einwohner pro Woche nachverfolgen und auch deren Kontaktpersonen ermitteln sollen", teilte Martin Eichner vom Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie in Tübingen dem SPIEGEL mit. Womöglich müssten die Ziele der Nachverfolgung dann niedriger gesteckt werden. Zwar habe die Regierung erklärt, auf keinen Fall die Kontrolle über die Pandemie verlieren zu wollen. Doch das sei laut Eichner eine Illusion. Es gebe niemanden, der diese Pandemie unter Kontrolle habe, also könne auch niemand die Kontrolle verlieren.

"Wir gehen davon aus, dass nicht alle Infizierten gemeldet werden, sondern vielleicht nur einer von vier, vielleicht etwas mehr, vielleicht auch weniger", so Eichner. "Wir können also vermutlich nur von jedem vierten Infizierten die Kontakte ermitteln, und auch davon werden wir nicht alle finden." Die wichtigste Aufgabe sei nun, die Infektion von besonders gefährdeten Menschen zu verhindern.

Im Moment sei der Anteil der schwer Erkrankten und Verstorbenen gemessen an den neu gemeldeten Infektionen verblüffend gering. Laut Eichner ein mögliches Indiz, dass es inzwischen besser gelingt, Risikogruppen zu schützen. Ob und wie das noch klappen wird, wenn sich Infektionen häufen, sei die wirklich wichtige Frage.

"Wir werden das schaffen"

Seit Anfang September steigt der Anteil der Älteren an den positiv Getesteten an, das macht sich auch allmählich auf den Intensivstationen bemerkbar. Aktuell werden laut Divi-Intensivregister  943 Covid-19-Patienten auf der Intensivstation behandelt - rund 340 mehr als noch vor einer Woche. Hält das Wachstum an, könnten laut Science Media Center  in zwei Wochen 2000 Covid-19-Patienten auf Intensivstation liegen. In drei Wochen wäre der bisherige Höchststand von April erreicht.

Intensivmediziner waren zuletzt jedoch zuversichtlich. "Wir werden das schaffen", sagt etwa Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Chefarzt am St.-Antonius-Hospital, Eschweiler. "Ich kenne keinen einzigen, der sagt, es wird eine Katastrophe werden." Wenn es zu Engpässen komme, dann vermutlich weniger wegen der Zahl der Betten - sondern wegen des Personalmangels. Statistiken zufolge fehlen in deutschen Krankenhäusern mehr als 50.000 Pflegekräfte.

Die zweithöchste 7-Tages-Inzidenz erreichte laut RKI-Statistik vom Mittwoch Delmenhorst mit 205 gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern. Dort gelten seit Anfang der Woche eine erweiterte Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und eine Sperrstunde der Gastronomie - so wie es die Vereinbarung von Bund und Ländern für eine Inzidenz von über 50 Neuinfektionen vorsieht.

Einen Shutdown wie in Berchtesgaden schloss Oberbürgermeister Axel Jahnz vorerst aus. Man werde die Entwicklung in den kommenden sieben bis zehn Tagen beobachten.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren