Corona-Konzert mit Tim Bendzko Noch kurz die Welt retten

Konzert vor Maskenträgern: Wer bis zum Schluss blieb, bekam ein Zertifikat als "Weltenretter*in"
Foto: Hendrik Schmidt / dpaZwei zerstückelte Stunden am Samstag fühlen sich tatsächlich wie Konzert an, in einer geschlossenen Halle, mit mehr als tausend fremden Menschen, trotz Corona. Auf der Bühne steht Tim Bendzko mit zwei Backgroundsängern und fünf weiteren Musikern. Sie spielen alte Klassiker und neue Radiohits, ruhige Balladen und schnelle Tanznummern.
Die Bühne in der Quarterback Immobilien Arena in Leipzig ist mit farbigem Licht bestrahlt, zwischendurch richten sich die Scheinwerfer ins Publikum. Es wird geklatscht, gesungen, getanzt, gekreischt und eine Zugabe verlangt. Am Einlass werden Taschen und Tickets kontrolliert.
Man könnte meinen, es sei alles wie immer. Aber etwas stimmt nicht.
Tim Bendzko steht heute nur temporär im Mittelpunkt. Denn eigentlich geht es hier um etwas anderes. Er und das Publikum sind Teil einer wissenschaftlichen Studie. Der Künstler gibt genau genommen gleich drei Konzerte. Jedes besteht aus zwei Blöcken à 20 Minuten Musik mit einer Pause dazwischen. Spielt keine Musik, wird viel geredet auf der Bühne - oder gewartet im Saal. Nach jedem Konzert verlassen alle Zuschauer die Arena und müssen sich nach einer Weile draußen neu anstellen. Jedes Mal gelten andere Abstandsregeln.
Ein gemeinsames Ziel
Forscher um Stefan Moritz, Leiter der Abteilung für Klinische Infektiologie des Universitätsklinikums Halle, wollen so herausfinden, wie Großveranstaltungen in geschlossenen Räumen trotz Corona-Pandemie mit vertretbarem Ansteckungsrisiko stattfinden könnten. Es ist das erste Projekt der Art. Die nationale und internationale Presse ist angereist, sogar der "Playboy" hat jemanden geschickt. Rund hundert Helfer sind im Einsatz.

Publikum beim ersten Konzert: Ungewohnt enges Beisammensein
Foto: Hendrik Schmidt / dpa4200 Teilnehmerplätze gab es, am Ende haben sich rund 2000 Menschen angemeldet, etwa 1400 sind wirklich gekommen. Ihre Motivation ist häufig die Hoffnung, dass Konzerte und Sportveranstaltungen in geschlossenen Hallen bald wieder stattfinden könnten. Ein Paar hat zwei Stunden Anreise aus Görlitz auf sich genommen. Als Bonus hat es kinderfrei, erzählt die Frau. Ein anderer Mann kam aus Zittau. Endlich gibt es Gelegenheit, etwas gegen die Ohnmacht im Umgang mit dem Virus zu tun.
Am Morgen sammelt sich so vor der Arena ein buntes Publikum. Mitmachen darf jeder, der keine Vorerkrankungen der Lunge oder des Herzens hat und zwischen 18 und 50 Jahre alt ist. Zu sehen sind Menschen in Tim-Bendzko-Fanshirts und Anhänger des Handballbundesligisten SC DHfK Leipzig, der in der Arena normalerweise seine Heimspiele hat, aber auch Personen in schwarzen Metal-Shirts und mindestens eine Gruppe, die dieses Jahr eigentlich das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig besuchen wollte.
Zeitreise in das Jahr 2019
Bislang sind Konzerte zu Pandemiezeiten in geschlossenen Arenen nur in absoluten Einzelfällen angedacht. Das betrifft alle Musikrichtungen. Denn niemand weiß genau, wo auf Großveranstaltungen das Risiko für eine Ansteckung besonders groß ist. Moritz und seine Kollegen wollen daher untersuchen, an welchen Stellen Besucher besonders vielen Mitmenschen begegnen und wie sich Risiken verringern lassen.
Dazu werden mehrere Sekunden anhaltende Zusammentreffen der Teilnehmer mit einem Abstand von unter 1,50 Meter mit einem Tracer aufgezeichnet, einem kleinen, grün blinkenden, viereckigen Kästchen, das um den Hals jedes Probanden hängt. Die Forscher können außerdem sehen, in welchem Bereich der Arena es wie viele Kontakte gibt, im Foyer, vor den Toiletten, im Saal.

Probanden mit FFP2-Masken und Tracer: Wo wird es eng im Saal?
Foto: Hendrik Schmidt / dpaAlle Teilnehmer, abgesehen von den Personen auf der Bühne, tragen zudem sicherheitshalber eine FFP2-Maske und benutzen den Tag über immer wieder unter UV-Licht fluoreszierendes Desinfektionsmittel, das Spuren auf allen angefassten Gegenständen hinterlässt.
Das erste Konzert läuft ab wie in der Zeit vor der Corona-Pandemie. Es gibt nur zwei Eingänge in die Konzerthalle, die Besucher sitzen dicht an dicht und können sich im gesamten Gebäude frei bewegen. Die Ausgabeschalter für Essenscoupons sind eng bemessen. Gedränge ist da vorprogrammiert.
Der Aufenthalt in der Halle unter diesen Bedingungen fühlt sich falsch an, ein bisschen wie eine Reise zurück ins Jahr 2019. Gleichzeitig zeigt sich einmal mehr, wie schwer Großveranstaltungen zu Pandemiezeiten umsetzbar sind: Vereinzelt ziehen sich, unbemerkt von den zahlreichen Sicherheitsposten, Leute ihre Masken vom Gesicht oder unter die Nase.
Zugegeben: Die FFP2-Masken sind etwas unangenehm zu tragen. Sie sitzen fest auf dem Gesicht, sodass die Atemluft durch die Filteröffnungen gelangt. Das Atmen selbst fällt überraschend leicht, doch die Teile drücken an der Nase. Obwohl es zunehmend warm wird in der Arena, scheint sich das Publikum mit der Zeit aber etwas an die Masken zu gewöhnen.
Im zweiten Szenario entspannt sich die Situation ohnehin ein wenig. Es gibt nun vier Eingänge in die Halle, jeder Zuschaue darf diese nur über den ihm zugewiesenen betreten. Die Platzkarten sind so vergeben, dass zwischen jedem Besucher ein Sitz frei bleibt. Im dritten Durchgang müssen sogar 1,50 Meter Abstand zwischen jeder Sitzgruppe eingehalten werden. Auf den Rängen ist nur jeder fünfte Platz vergeben. Maximal jeweils zwei Besucher, die gemeinsam unterwegs sind, dürfen direkt nebeneinandersitzen.

Zweites Szenario: Hier blieb mindestens ein Platz zwischen zwei Teilnehmern frei
Foto: Sean Gallup / Getty ImagesGetrunken werden soll in der Arena nur in Notfällen, gegessen wird außerhalb des Studienprotokolls zwischen den drei Konzerten vor der Halle mit Abstand. Obwohl Corona das zentrale Thema ist, darf sich das Virus hier auf keinen Fall ausbreiten. Alle Teilnehmer mussten zwei Tage vor dem Studientag einen Abstrich aus ihrem Rachen abliefern, der auf eine Corona-Infektion getestet wurde. Eine Probe war positiv, berichtet Moritz nun und ist froh, dass es nicht die von Bendzko war.
Kleine Panne zu Beginn
Auf der Bühne bewegt sich der Forscher, als würde er kaum etwas anderes machen, als vor großem Publikum aufzutreten. Er trägt ein knallig gelbes T-Shirt und keine Haare auf dem Kopf. Als er auf der Bühne mit rollendem R berichtet, dass auch verschiedene Szenarien auf den Toiletten getestet würden, hat er die Lacher und damit das Publikum auf seiner Seite.
Die Leute verzeihen dem Wissenschaftler da sogar, dass es gleich zu Beginn zu einer Panne kommt, die den Ablauf des ohnehin langen Tages um ungefähr eine Stunde nach hinten verschiebt. Bei der Registrierung der Teilnehmer am Morgen, bei der noch mal Fieber gemessen wird, Personalien geprüft, Masken, Desinfektionsmittel und Tracer verteilt werden, läuft etwas schief.
Helfer geben ungefähr 60 falsch programmierte Ersatzgeräte zum Verfolgen der Kontakte aus. Als der erste Konzertblock um 11 Uhr beginnen soll, müssen die Probanden ihre Tracer überprüfen lassen. Die Studie demonstriert also ganz anschaulich, was bei Feldforschung alles schiefgehen kann. Der Rest des Tages verläuft dann aber reibungslos.
Die Arbeit beginnt jetzt erst
Die Livemusik sorgt immer wieder für Stimmung. In allen drei Szenarien stehen Menschen im Publikum auf und tanzen, auch und erst recht während des letzten Konzerts, fast zehn Stunden, nachdem die ersten Probanden sich registriert haben. Die Menschen wirken, als wollten sie den Moment noch einmal auskosten. Wer weiß, wann es so eine Möglichkeit das nächste Mal geben wird?

Trubel in der Pause: Vor der Ausgabe für die Essenscoupons wurde es eng
Foto: Sean Gallup / Getty ImagesDie verschiedenen Konzerte erleben die Probanden ganz unterschiedlich. Eine Frau genießt es, dass im zweiten Szenario viel Platz ist, sagt sie. Andere stört der Abstand zu mitgereisten Freunden. Tatsächlich erfordert vor allem das dritte Szenario mit den großen Abständen eine gute Raumplanung, denn für ein schönes Erlebnis dürfen Zweiergruppen nicht getrennt werden.
Am Schluss erhalten die Teilnehmer ein Zertifikat, das sie als "Weltenretter*innen" auszeichnet. Sie haben ihren Beitrag geleistet. Für Moritz und sein Team geht die Arbeit dagegen weiter. Sie müssen nun gewaltige Datenmengen auswerten.
Die Forscher haben die Halle inklusive der Belüftungsanlage bereits im Computer simuliert. Alle Begegnungen der Konzertbesucher werden nun dort eingespeist. Die Experten erhoffen sich so auch Erkenntnisse, wie sich Aerosole in der Arena verteilen, die das Coronavirus über die Luft übertragen könnten.
Drei Wochen dauert es, ein Szenario durchzurechnen. Die ersten Ergebnisse erwartet Moritz frühestens im Oktober. Dann wird sich zeigen, welche Risiken für Kontakte mit Fremden die verschiedenen Abstandsregeln an unterschiedlichen Orten einer Arena bergen. Bleiben wird die Frage, in welchem Ausmaß die Gesellschaft bereit ist, Ansteckungen bei großen Veranstaltungen in Kauf zu nehmen. Fürs Erste aber überwiegt die Hoffnung auf ein bisschen mehr Normalität.