Berechnungen zum Lockdown Eine Frage von Monaten

Es macht keinen Spaß, den ganzen Tag zu Hause zu hocken. Bewegung und frische Luft fehlen, die Kinder drehen durch - im schlimmsten Fall wechseln sich Langweile und Trübsinn ab. Wie viele Tage oder Wochen soll das noch so weitergehen? Wann ist der Corona-Spuk endlich vorbei?
Dies fragen sich nicht nur alle die Menschen, die mittlerweile mehr oder weniger in Hausarrest leben. Viele Firmen stehen vor dem Ruin, weil die Arbeit reduziert wird, keine Kunden mehr kommen oder der Betrieb ganz stillsteht.
Wie lange dieser Lockdown anhält, hängt vor allem davon ab, wie konsequent er umgesetzt wird. Dies zeigen Pandemiemodelle - etwa jenes von Forschern der Universität Basel oder das des Programmierers Gabriel Goh . Es ist paradox: Je besser wir die sprunghafte Ausbreitung des Coronavirus eindämmen, umso länger müssen wir uns restriktiven Maßnahmen fügen. Denn dann ist die Kurve der Neuinfektionen zwar flacher, das Virus grassiert dafür in Deutschland deutlich länger.
Zwar sind diese Modellrechnungen mit diversen Unsicherheiten behaftet. Klar scheint jedoch: Falls in den kommenden Monaten weder Medikamente noch eine Impfung verfügbar sind, könnte der Lockdown im Extremfall bis ins Jahr 2021 hinein gehen – eine düstere Prognose.
Die folgenden drei Szenarien zeigen am Beispiel Deutschland, wie sich die Infiziertenzahlen entwickeln könnten, je nachdem, wie restriktiv die ergriffenen Maßnahmen sind. Genutzt wurde dabei das Modell von Richard Neher und seinen Kollegen von der Uni Basel.
Alle Simulationen beginnen am 1. März 2020 mit rund 1700 Infizierten und laufen ein Jahr lang. Die Berechnungen berücksichtigen auch die Behandlungskapazitäten der Krankenhäuser. Gibt es zum Beispiel mehr Schwerkranke als Beatmungsplätze, steigt die Todesrate. Das Modell geht davon aus, dass im Schnitt etwa ein Prozent aller Covid-19-Fälle tödlich endet und berücksichtigt, dass die Sterblichkeit mit zunehmendem Alter steigt.
Szenario 1: Ungebremster Ausbruch
Im ersten Szenario werden keinerlei Schutzmaßnahmen ergriffen. Würde man an jedem Tag zählen, wie viele Menschen an diesem Tag in Deutschland infiziert sind, käme man Mitte Mai auf den Höchstwert von 22,5 Millionen Personen. Bis Anfang Juli würde diese Zahl dann schnell wieder auf unter 100.000 fallen.
Die folgenden Diagramme verwenden eine logarithmische Skala. Dabei ist der Abstand zwischen 1 und 10 genauso groß wie zwischen 10 und 100 oder zwischen einer Million und zehn Millionen. Dadurch können Sie die relativ kleinen Betten- und Schwerkrankenzahlen und die teils um Zehnerpotenzen höheren Infiziertenzahlen zugleich überschauen.
In diesem Szenario wäre die Coronakrise am schnellsten vorbei – aber zu einem Preis, den niemand bezahlen möchte. Der Modellrechnung zufolge bräuchten bis zu 500.000 Menschen zugleich intensivmedizinische Betreuung. In Deutschland gibt es jedoch nicht einmal 30.000 sogenannte ICU-Plätze. Mehr als 700.000 Menschen könnten deshalb binnen weniger Monate sterben. Mehr als 70 Millionen Deutsche hätten sich in den Monaten bis zum Sommer mit dem Coronavirus infiziert und die Infektion dann überstanden.
Szenario 2: Gebremster Ausbruch
Flatten the Curve - den Anstieg der Infiziertenzahlen flacher gestalten: So lautet schon seit Tagen die Parole. Im zweiten Szenario wird genau dies gemacht – allerdings nur mit moderat wirkenden Eingriffen. Die Forscher senken dabei die Ansteckung von Mensch zu Mensch ab. Laut den Modellannahmen steckt ein Infizierter ohne Schutzmaßnahmen im Schnitt 2,7 Menschen an. Gelingt es, diesen Wert abzusenken, wird die Kurve der nachgewiesenen Neuinfektionen flacher.
Im Szenario "Moderat" sinkt die Übertragungsrate vom 1. März bis zum 1. Mai um etwa ein Drittel und bleibt dann auf diesem Wert. Ein Infizierter steckt also deutlich weniger andere Menschen an als ohne Schutzmaßnahmen. Der Peak der Infiziertenkurve verschiebt sich dadurch um etwa einen Monat nach hinten in den Juni hinein. Statt 22 Millionen sind dann nur noch knapp 8 Millionen zugleich infiziert. Im September würden die tagesaktuellen Infiziertenzahlen dann unter den Wert von 100.000 sinken.
Obwohl die Kurve deutlich flacher verläuft, würde das Gesundheitssystem auch hier kollabieren. In der Spitze bräuchten wohl mehr als 200.000 Menschen gleichzeitig intensivmedizinische Betreuung – fast zehnmal so viele wie es Plätze gibt. Laut Simulation gäbe es etwa 500.000 Tote.
Szenario 3: Flache Kurve
Im dritten Szenario wird die Infiziertenkurve so stark abgeflacht, dass die Anzahl schwer Erkrankter stets kleiner bleibt als die Anzahl der Plätze auf Intensivstationen - im Modell sind das 24.000.
Wir haben das Szenario vom 1. März 2020 an ein Jahr laufen lassen. Die Infiziertenzahlen erreichen demnach erst im Januar 2021 ihren Höhepunkt – bei etwa 450.000. Die täglich erfasste Zahl der an diesem Tag als schwer krank eingestuften Patienten läge laut den Modellrechnungen bei maximal 15.000. Sofern die Zahl der Plätze auf Intensivstationen in den kommenden Monaten aufgestockt wird, könnten die Krankenhäuser dies durchaus verkraften - und zugleich alle übrigen Patienten intensivmedizinisch versorgen, die nicht an Covid-19 erkrankt sind.
Die Zahl der Todesopfer würde den Berechnungen zufolge bis zum 1. März 2021 bei knapp 100.000 liegen. Immer noch erschreckend – aber deutlich weniger als in den beiden anderen Modellrechnungen.
Dieses Szenario birgt aber einen gravierenden Nachteil: Es dauert sehr lange, bis sich die Situation wieder entspannt. Es wäre weder im Januar 2021 so weit noch im März 2021. Und während dieser ganzen Zeit müssten die Schutzmaßnahmen beibehalten werden.
"Solange ein großer Teil der Bevölkerung nicht infiziert ist, sind die Restriktionen nötig, um ein erneutes Ansteigen der Fallzahlen zu verhindern", sagt der Baseler Forscher Richard Neher. Man werde eine "lange Abwehrschlacht" führen müssen, um wiederholte Ausbrüche zu verhindern. Oder wie es der Virologe Christian Drosten ausdrückte: Der Kampf gegen das Virus sei "kein Sprint, sondern ein Marathon".
Womöglich müssen die Schutzmaßnahmen in Deutschland nicht ganz so drastisch ausfallen wie in China. Dort ist es nun ja offenbar gelungen, die Neuinfektionen ganz auf null zu senken . So weit geht das dritte Szenario nicht. Die Frage ist, welche Maßnahmen wie gut wirken und auf welche man womöglich verzichten kann. Das werden unter anderem die Infiziertenzahlen der nächsten Wochen zeigen.
Es gibt Hoffnung!
Die Aussicht auf ein halbes oder ein ganzes Jahr Lockdown wird viele erschrecken - aber es muss nicht so kommen. Die Forscher wissen nämlich einfach noch nicht genug über das Virus und seine Verbreitung, um eine verlässliche Aussage treffen zu können. Womöglich erweisen sich einige Parameter der Modelle deshalb als zu pessimistisch - und die Ergebnisse der Modellrechnungen erweisen sich als Übertreibung.
So könnte sich herausstellen, dass die Zahl der unerkannt Infizierten viel größer ist als gedacht. Gäbe es, wie eine Studie nahelegt, zehnmal mehr Fälle als in den aktuellen Statistiken, läge die Sterberate (Mortalität) viel niedriger. Eine hohe Infiziertenzahl wäre dann auch weniger gefährlich für das Gesundheitssystem.
Beim Modell des Programmierers Gabriel Goh kann man beispielsweise die Mortalität von 1,0 Prozent auf 0,1 Prozent setzen - und die Simulation statt mit 500 mit 5000 Infizierten beginnen lassen. Wählt man moderate Maßnahmen, würde es in den ersten 200 Tagen nicht fast 500.000 Tote geben, sondern nur noch 50.000.
Die größte Hoffnung ruht aber auf den Forschern, die unter Hochdruck an Medikamenten und Impfstoffen arbeiten. Je früher diese verfügbar sind, umso eher ist die Coronakrise vorüber. Mit einem breit verfügbaren Wirkstoff, der Schwerkranken direkt hilft, könnte man die Schutzmaßnahmen womöglich schnell zurückfahren.
"Ich bin ganz optimistisch, dass es in den nächsten zwölf Monaten einen Impfstoff gibt", meint Richard Neher. Möglicherweise könne man künftig auch einige Maßnahmen lockern, wenn man konsequent teste, Kontakte zurückverfolge und isoliere.
Vor den Menschen liege eine anstrengende Zeit, sagt der Forscher. "Ich denke aber, dass es möglich ist, das Virus einzudämmen. Das zeigen China, Südkorea und Singapur."