Strategie gegen die Pandemie Wissenschaftler der Leopoldina fordern Impfpflicht

Zu wenig unternimmt die Politik gegen die vierte Welle, so die Diagnose der Forscher. Sie fordern: Arbeitnehmer müssten ihren Status transparent machen – und für Pfleger oder Lehrer sollte die Impfung vorgeschrieben werden.
Impfwerbung in Berlin: Der bevorstehende Winter werde eine »gesellschaftliche und medizinische Herausforderung«

Impfwerbung in Berlin: Der bevorstehende Winter werde eine »gesellschaftliche und medizinische Herausforderung«

Foto: Steffi Loos / Getty Images

Ursprünglich beabsichtigten die Gelehrten der Leopoldina, eine wissenschaftliche Stellungnahme zur künftigen Entwicklung antiviraler Medikamente gegen Corona herauszugeben. Doch die Forscherinnen und Forscher schätzen die derzeitige Infektionslage als so dramatisch ein, dass sie ein Vorwort mit einem harten Forderungskatalog vorangestellt haben. Darin steht, was ihrer Meinung nach jetzt akut geschehen müsse. Verfasst hat es Gerald Haug, der Präsident der Akademie und Berater der Bundesregierung.

Die Viruspandemie habe »mit der vierten Welle wieder stark an Dynamik gewonnen«, schreibt der Max-Planck-Forscher in der Stellungnahme, die dem SPIEGEL vorliegt. Besorgt ist Haug vor allem über den im Vergleich zu anderen EU-Ländern wie Portugal schleppenden Verlauf der Impfung. Er schreibt: »Die zu geringe Impfquote – ca. 16 Millionen Erwachsene sind aktuell nicht geimpft – trägt maßgeblich dazu bei, dass zunehmend wieder schwere Krankheitsverläufe mit zum Teil langen Krankenhausaufenthalten zu beobachten sind.«

Mangel an Prävention, klaren Regeln und Stringenz

In manchen Punkten sei man besser aufgestellt als im ersten Jahr der Pandemie, so Haug, der im ständigen Austausch mit den Leopoldina-Mitgliedern wie Charité-Chef Heyo Kroemer und RKI-Präsident Lothar Wieler steht. Doch insbesondere den deutlich reduzierten Personalbestand auf den Intensivstationen beobachtet er mit großer Besorgnis. Die Politikerinnen und Politiker in Berlin und in den Bundesländern kritisieren die Experten für »einen Mangel an Prävention, klaren Regeln und Stringenz«.

Entsprechend drastisch fallen die Leopoldina-Empfehlungen aus, wie dieser vierten Welle beizukommen sei. Neben allgemein akzeptierten Forderungen, etwa zum Tragen von Masken in Innenräumen und einer verstärkten Impfkampagne, einschließlich Booster-Impfungen, sprechen sich Haug und seine Wissenschaftskolleginnen und Kollegen auch für eine Reihe von Maßnahmen aus, die hochumstritten sind.

  • In der Arbeitsschutzverordnung bräuchte es »eine angemessene Regelung zur Offenlegung des Impfstatus«, heißt es in der Stellungnahme. Bislang ist es den Arbeitgebern aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht erlaubt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu befragen, ob sie geimpft sind. Das soll sich nach Leopoldina-Meinung ändern, damit die Unternehmen den Einsatz ihrer Leute, etwa am Fließband oder in Großraumbüros zum Schutz vor Corona-Ansteckungen besser planen können.

  • Die 2G-Regel, wonach nur geimpfte oder genesene Menschen Zutritt zu Veranstaltungen bekommen, solle »eine größere Geltungsreichweite« erhalten, schreiben Haug und die Leopoldina-Forscherinnen und -Forscher. Damit stellen sie sich hinter eine entsprechende Regelung, wie sie im Bundesland Sachsen gilt, oder wie sie auch das Land Berlin plant. Sie widersprechen damit insbesondere der FDP und auch Teilen der Grünen, die sich gegen eine Ausweitung der 2G-Regeln ausgesprochen haben.

  • Gleiches gilt für den dritten Forderungspunkt, »Impfpflichten für Multiplikatoren«, wie es in dem Positionspapier heißt. Dahinter verbergen sich nicht nur Pflegerinnen und Pfleger, über deren mangelnden Impfstatus in den vergangenen Wochen heftig diskutiert worden ist. Auch Lehrpersonal oder andere Berufsgruppen mit viel Kontakt zu anderen Menschen sollten nach Leopoldina-Auffassung verpflichtend geimpft sein.

Den Verantwortlichen der Nationalakademie ist bewusst, dass sie weitgehende Forderungen an die Politik richten. Sie begründen dies aber damit, dass der »bevorstehende Winter eine gesellschaftliche und medizinische Herausforderung« werde.

Medikamentenforschung soll gestärkt werden

Die Leopoldina macht wenig Hoffnung, dass Corona einfach wieder so verschwinden wird, wie die Krankheit gekommen ist. Im Gegenteil: Das Virus werde sich »langfristig als endemisches Virus etablieren, das heißt dauerhaft in Teilen der Bevölkerung zirkulieren«, erwarten die Leopoldina-Experten. Auch nach dem Abklingen der Pandemie würden sich Menschen infizieren, was zu schweren Verläufen und Todesfällen führen könne.

Deshalb sei es wichtig, »die Forschung an antiviralen Medikamenten« zu verstärken. Dies sei eine Lehre aus den vergangenen zwei Jahren. Dabei habe sich gezeigt, dass es neben Impfung und dem Schutz vor Übertragungen »Lücken« gegeben habe, die es zu schließen gilt. Antivirale Medikamente könnten denjenigen vor einem schweren Krankheitsverlauf schützen, die nicht oder nicht ausreichend geimpft seien oder bei denen die Impfung keinen ausreichenden Immunschutz bewirkt habe.

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Die Leopoldina sieht dabei auch den Staat und die Politik als Unterstützer gefragt. Grundlagen- und klinische Forschung müsse sich mit Biotech- und Pharmafirmen zu einem Netzwerk zusammenschließen, in dem auch Aufsichtsbehörden sowie im Krisenfall Politikerinnen und Politiker Mitglieder seien.

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