B.1.617.2 Ausbreitung von Mutante – Experten warnen vor Lockerungen in Großbritannien

Pub in Schottland: Großbritannien plant schon für kommende Woche weitere Öffnungsschritte
Foto: Peter Summers / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Die deutliche Zunahme der Virusvariante B.1.617.2 stellt laut Wissenschaftlern geplante Öffnungsschritte in Großbritannien infrage. Britische Behörden hatten die Mutante am vergangenen Freitag als »besorgniserregend« eingestuft, nachdem es zunehmend Hinweise auf lokale Ausbrüche gegeben hatte. Seitdem breitet sie sich weiter aus, während andere Varianten zurückgehen.
Die Zunahme sei ihrer Meinung nach besorgniserregend genug, um geplante Öffnungsschritte zu verschieben, sagte Christina Pagel dem »Guardian« . Pagel ist Direktorin für klinische operative Forschung am University College London und Mitglied eines Expertengremiums, das die britische Regierung in der Coronakrise berät.
Premierminister Boris Johnson hat angesichts der niedrigen Infektionszahlen – die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien liegt aktuell bei etwa 21, und dem zunehmenden Impffortschritt für den 17. Mai weitreichende Lockerungen angekündigt. Restaurants, Theater, Kinos und Museen sollen in England wieder öffnen.
Zudem gibt es Lockerungen bei Kontaktbeschränkungen. Draußen sind dann wieder Treffen mit bis zu 30 Personen erlaubt. Auch im Rest des Vereinigten Königreichs sind Lockerungen geplant. Schottland, Wales und Nordirland legen allerdings ihre eigenen Coronamaßnahmen fest.
Variante aus Indien in mehr als 40 Ländern nachgewiesen
Ob die geplanten Lockerungen wegen der Mutante tatsächlich zurückgenommen werden, ist ungewiss. B.1.617.2 ist einer von drei eng verwandten Subtypen, die zunächst in Indien nachgewiesen wurden und sich schnell weltweit verbreitet haben. Inzwischen ist die Mutante laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus mehr als 40 Ländern bekannt. Auch die WHO stuft die Variante inzwischen als besorgniserregend ein.
Was die Variante B.1.617 potenziell gefährlich macht, ist ein Mix aus zwei Mutationen, »E484Q« und »L452R«. Sie ist deshalb auch als »Doppelmutante« bekannt, weist aber noch deutlich mehr Genveränderungen auf. Was genau diese Mutationen bewirken, können Forschende noch nicht genau sagen. Allerdings ist die Variante womöglich auf gleich zwei Wegen gefährlicher als der Ursprungstyp des Virus:
Die Genveränderungen könnten es dem Virus leichter machen, an menschliche Zellen anzudocken und in diese einzudringen. Der Erreger würde dadurch ansteckender. Dafür spricht auch, dass sich die Mutante in Indien sehr schnell ausgebreitet hat.
Geimpfte und Genesene sind normalerweise vor einer erneuten Infektion mit dem Coronavirus gewappnet, weil ihr Immunsystem den Erreger bereits kennt und ihn gezielt ausschalten kann. Die nun aufgetretenen Mutationen verändern das Virus jedoch so, dass es der Immunabwehr womöglich entkommen kann. Solche Genveränderungen werden auch Fluchtmutationen genannt. Im schlimmsten Fall könnten durch sie auch Geimpfte und Genesene erneut schwer erkranken. Die Pandemie würde von vorn beginnen. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
In kaum einem Land wird so viel sequenziert wie in Großbritannien. Laut einer Datenbank wurde die Variante B.1.617.2 mittlerweile in fast 1400 Proben nachgewiesen, damit ist sie die zweithäufigste in Großbritannien. Am häufigsten kommt nach wie vor die Variante B.1.1.7 vor, die erstmals in Großbritannien entdeckt worden war und auch in Deutschland aktuell den Großteil der Infektionen ausmacht. Während der Anteil dieser Mutante in Großbritannien nun wieder zurückgeht, breitet sich die aus Indien bekannte Variante weiter aus.
Laut dem Wellcome-Sanger-Institut wurde B.1.617.2 bis Ende April in etwa sechs Prozent der Proben in Großbritannien nachgewiesen. In einigen Regionen Englands liegt ihr Anteil bereits bei 50 Prozent. Es gibt Überlegungen, Menschen in den betroffenen Regionen mit Priorität zu impfen, um die Ausbreitung einzudämmen.
Laut Pagel ist die Zahl der nachgewiesenen Infektionen mit B.1.617.2 in Großbritannien aktuell zwar noch gering, aber sie hätte sich allein in den vergangenen drei Wochen verdoppelt. »Wir haben bereits so oft so lange gewartet, bis sich die Situation verschärfte, und wir gemerkt haben, dass wir schon vor Wochen hätten handeln sollen«, so Pagel. »Warum handeln wir diesmal nicht tatsächlich einige Wochen im Voraus – und das wäre jetzt.«
Wenn Maßnahmen aufgehoben werden, könnten sich neue Varianten deutlich schneller verbreiten, mahnen auch andere Wissenschaftler. Ein Großteil der Lockerungen wird mit dem zu erwartenden Impfschutz begründet, sagte Epidemiologe Andrew Hayward laut »Guardian«. »Meine Hauptsorge ist, dass wir im Moment noch zu wenig darüber wissen, bis zu welchem Grad verschiedene Varianten der Immunität durch Impfung oder Infektion entkommen können.«
Wie unempfindlich die Variante B.1.617.2 gegen Impfstoffe ist, lässt sich aktuell nur schwer einschätzen. Dass sie sich nun in Großbritannien verbreitet, während andere Varianten zurückgehen, könnte jedoch ein Hinweis dafür sein. Mehr als die Hälfte der Menschen in Großbritannien hat zumindest die erste Impfdosis bekommen. Laut internen Dokumenten der britischen Gesundheitsbehörde PHE hatten sich auch 15 Menschen in einem Londoner Pflegeheim mit der Variante infiziert, die bereits zweimal mit dem Impfstoff von AstraZeneca geimpft worden waren. Allerdings hatten sie zum Zeitpunkt der Infektion noch keinen vollen Schutz.
So ist die Lage in Deutschland
In Deutschland ist die Variante B.1.617 bisher kaum vertreten. Weil nicht klar ist, ob sie tatsächlich ansteckender ist und vermehrt zu Reinfektionen führt, fehlt es laut Robert Koch-Institut (RKI) »gegenwärtig an gesicherten Erkenntnissen«, um diese Variante als »besorgniserregend« einzustufen. Sie gilt deshalb hierzulande vorerst weiterhin als »Variante unter Beobachtung«.
In Deutschland hat die Variante B.1.617 bisher noch keinen großen Vorteil, sagte Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast »Coronavirus-Update«. Die Bevölkerung hier sei noch nicht so stark immunisiert wie in Großbritannien. Die Mutante ist laut Drostens Einschätzung etwas weniger beeinträchtigt durch Impfung und Immunität.
Die Voraussetzungen für die Verbreitung solcher Varianten dürften sich laut dem Virologen auch in Deutschland mit dem Impffortschritt zum Herbst hin ändern. Welche Variante dann vorherrsche oder noch neu auftauche, lasse sich nicht vorhersagen. Aktuell dominiert in Deutschland weiterhin die Variante B.1.1.7, die laut dem aktuellen Bericht des RKI 91 Prozent der Infektionen ausmacht.