These von britischem Forscher zu Corona Gibt es eine "immunologische Dunkle Materie" in Deutschland?

Warum ist Deutschland bisher besser durch die Coronakrise gekommen als Großbritannien? Der Neurowissenschaftler Karl Friston hat eine ungewöhnliche Erklärung.
Aufnahme eines Galaxiehaufens, die Verteilung der nicht sichtbaren Dunklen Materie ist in Blau dargestellt

Aufnahme eines Galaxiehaufens, die Verteilung der nicht sichtbaren Dunklen Materie ist in Blau dargestellt

Foto: DPA/ NASA

Der häufigste Stoff im Universum ist zugleich eines seiner größten Rätsel: Die Dunkle Materie macht sich durch ihre Schwerkraft-Wirkung bemerkbar, doch sie sendet weder Licht aus, noch verschluckt sie es. Doch ohne ihre Existenz würden die Modelle nicht funktionieren, mit denen Physiker und Physikerinnen unter anderem die Bewegungen von Sternen und Galaxien erklären.

Jetzt hat der britische Neurowissenschaftler Karl Friston die These aufgestellt, dass es ein ähnliches Phänomen auch in Bezug auf Covid-19 gibt. Im Interview mit dem britischen "Guardian"  sagte der Forscher, was aus seiner Sicht dazu beigetragen habe, dass Deutschland im Vergleich zu Großbritannien bisher relativ wenige Covid-Todesfälle zu beklagen hat. Einige der Erklärungen seien kontraintuitiv, sagte Friston, der am sogenannten unabhängigen Sage-Komitee beteiligt ist, einem Expertengremium, das sich formiert hat, um die Regierung neben dem offiziellen Sage-Komitee wissenschaftlich zu beraten.

"Es gibt verschiedene mögliche Erklärungen", sagt Friston. "Eine, die immer wahrscheinlicher wird, ist, dass Deutschland mehr immunologische 'Dunkle Materie' besitzt - Menschen, die gegen eine Infektion gefeit sind, etwa weil sie örtlich isoliert leben oder weil sie eine Form natürlicher Resistenz besitzen."

Es sei so ähnlich wie mit der Dunklen Materie im Universum, sagt Friston: "Wir können sie nicht sehen, aber wir wissen, dass sie da sein muss, um zu erklären, was wir sehen." Das Wissen um die Dunkle Materie könnte bei der Vorbereitung auf eine zweite Welle helfen, weil es zum Beispiel nahelege, Menschen auf Covid-19 zu testen, die ein hohes Ansteckungsrisiko haben, anstatt wahllos die gesamte Bevölkerung zu testen.

Nach Angaben  der Weltgesundheitsorganisation WHO sind in Großbritannien bisher 39.045 Menschen im Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion gestorben, in Deutschland sind es 8522.

Ist Deutschland tatsächlich dank der von Friston postulierten Dunklen Materie bisher relativ glimpflich durch die Coronakrise gekommen? Oder sind andere Ursachen wahrscheinlicher?

Welche bereits bekannten Ursachen können den Unterschied erklären?

Ob in Deutschland tatsächlich mehr Menschen örtlich isoliert leben als in Großbritannien, ist fraglich. Beide Länder sind dicht besiedelt. Beide verfügen über große Flughäfen, die erst im Corona-Lockdown größtenteils den Betrieb eingestellt haben.

Zu den bekannten Risikofaktoren für einen schweren Verlauf bei einer Coronavirus-Infektion zählen höheres Alter und Fettleibigkeit. Unterscheiden sich die Bevölkerungen von Großbritannien und Deutschland in dieser Hinsicht? In Deutschland  sind 22 Prozent der Menschen 65 Jahre alt und älter, in Großbritannien  waren es im Jahr 2018 rund 18 Prozent. Laut einem OECD-Bericht  waren im Jahr 2015 knapp 24 Prozent der Erwachsenen in Deutschland übergewichtig, in Großbritannien waren es knapp 27 Prozent. Altersstruktur und Gewicht können die Unterschiede also kaum erklären.

Melanie Brinkmann, die die Arbeitsgruppe Virale Immunmodulation am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung leitet, schreibt dem SPIEGEL, sie nehme weiterhin an, "dass unsere frühzeitigen Tests und zügiges und entschlossenes Handeln einen Unterschied gemacht haben. Wir haben viel früher gehandelt als die Briten, und wir haben viel mehr getestet, und nicht nur die, die in die Klinik kamen". Weiter schreibt sie: "Dunkle Materie kann alles Mögliche sein - eigentlich heißt es ja nichts anderes, als dass es Dinge gibt, die wir bislang nicht kennen und erklären können. Das ist bestimmt so."

Schutz durch Kontakt mit anderen Coronaviren denkbar

Jonas Schmidt-Chanasit, Leiter der Virusdiagnostik am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, sagt, es gebe sicher eine ganze Reihe von Gründen, bei denen auch Zufall und Glück eine Rolle spielten. "Es ist zum Beispiel gut, dass der Webasto-Cluster so früh entdeckt wurde und es keine weitere Ausbreitung von diesem Cluster aus gab." Auch er betont, wie Brinkmann, dass das intensive Testen auf Coronavirus-Infektionen dazu beigetragen hat, dass die Epidemie in Deutschland bisher weniger dramatisch verlaufen ist als in Großbritannien.

Kann es denn immunologische Unterschiede geben? "Erste Studien im Labor zeigen, dass T-Zellen , die durch Kontakt mit einem endemischen Coronavirus entstanden sind, möglicherweise einen Schutz gegen Sars-CoV-2 bieten", sagt Schmidt-Chanasit. Es wäre also theoretisch denkbar, dass mehr Menschen in Deutschland vor einer Sars-CoV-2-Infektion gefeit sind als in Großbritannien, falls hier in den vergangenen Jahren mehr endemische Coronaviren kursierten. Das ist allerdings Spekulation - niemand hat die Verbreitung der endemischen Coronaviren, die Erkältungen auslösen, hierzulande oder in Großbritannien untersucht.

Schmidt-Chanasit hebt zusätzlich das relativ gut aufgestellte Gesundheitssystem in Deutschland hervor, in dem man gute Möglichkeiten hat, schnell behandelt zu werden.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version wurde die "Dunkle Materie" in der Überschrift als "Schwarze Materie" bezeichnet, Wir haben dies korrigiert.

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