Wiederaufnahme der Impfstoffstudie AstraZeneca strapaziert das Vertrauen

Vorbereitung von Impfstoffdosen für den Oxford-Impfstoff
Foto: Vincenzo Pinto / AFPEs war ein Rückschlag für alle, die große Hoffnungen in eine schnelle Impfstoffentwicklung stecken: Vergangene Woche hatte die britisch-schwedische Pharmafirma AstraZeneca die Phase-III-Studie für ihren Corona-Impfstoff unterbrochen. Mindestens eine Patientin hatte eine Erkrankung entwickelt, die man nicht auf Anhieb erklären konnte. Der Pharmakonzern stoppte daraufhin alle weiteren Impfungen, damit unabhängige Experten überprüfen konnten, ob die Beschwerden auf den Impfstoff zurückzuführen sind.
Einige Experten gingen von einer langen, sorgfältigen Untersuchung aus. Doch weniger als eine Woche nach dem Zwischenfall nahm AstraZeneca die klinischen Studien wieder auf - zumindest die, die in Großbritannien durchgeführt werden. Am Samstag gab der Konzern bekannt , dass ein unabhängiger Prüfungsausschuss und die britische Aufsichtsbehörde Medicines Health Regulatory Authority (MHRA) die Fortsetzung der Impfungen von Freiwilligen als sicher eingestuft hätten.
Doch wie kann das sein, so schnell?
Die Phase-III-Studie wurde unterbrochen, weil eine Teilnehmerin Symptome einer Transversen Myelitis entwickelt hatte: einer Entzündung des Rückenmarks, die in Folge einer Virusinfektion durch eine überschießende Reaktion des Immunsystems auftreten kann. AstraZeneca gab keine näheren Informationen zum Krankheitsbild der Frau, die Europäische Arzneimittelagentur EMA berichtete von einer "Schwäche in den Armen und Beinen" der Probandin.
Es war bereits der zweite Vorfall bei AstraZeneca, nur vom ersten bekam niemand etwas mit. Schon damals musste die Studie einmal kurzzeitig gestoppt werden, um eine Sicherheitsprüfung durchzuführen. Doch dabei war herausgekommen, dass die bei einem Probanden diagnostizierte "neurologische Erkrankung" nicht in Zusammenhang mit dem Impfstoff steht.
Studienunterbrechungen gelten als Routinemaßnahmen, wenn im Rahmen einer Studie unerklärliche Krankheiten und potenzielle Nebenwirkungen auftreten. Um zu prüfen, ob eine Impfstoffstudie dennoch bedenkenlos fortgesetzt werden kann, muss eine unabhängige Expertenkommission, die als Data Monitoring Committee bezeichnet wird, untersuchen, wie es zu den Beschwerden gekommen ist. Dazu werden etwa folgende Fragen geklärt: Hat der Proband oder die Probandin der Impfstoff- oder Kontrollgruppe der Studie angehört? Hatte er oder sie Vorerkrankungen? Könnte ein anderes Virus für die Nebenwirkung verantwortlich sein, mit dem sich der Proband oder die Probandin unabhängig von oder bereits vor der Teilnahme an der Impfstoffstudie infiziert hat?
AstraZeneca gibt keine Auskunft darüber, wie und warum die Aufsichtsbehörde am Samstag zur Entscheidung gekommen ist, die Studie fortzusetzen. Alle Probanden und Probandinnen sowie die zuständigen Ärztinnen und Ärzte würden die relevanten Informationen erhalten, teilte die Firma mit. Man könne jedoch keine weiteren medizinischen Informationen geben. Sowohl die Oxford-Universität als auch AstraZeneca schrieben, dass die Sicherheit ihrer Probanden oberste Priorität habe.
Auch die MHRA bestätigte auf Anfrage des SPIEGEL, dass die Sicherheit höchste Priorität habe. "Nachdem wir die von den Forschern bereitgestellten Daten überprüft und einen unabhängigen Expertenrat von der Kommission für Humanarzneimittel eingeholt hatten, haben wir den Neustart der Studien genehmigt", hieß es. "Wir überwachen kontinuierlich die Sicherheit von Impfstoffen, um sicherzustellen, dass die Vorteile gegenüber den potenziellen Risiken überwiegen."
Es könnte nun sein, dass das Data Monitoring Committee bei seiner Prüfung wie schon beim ersten auffälligen Probanden ausschließen konnte, dass die Erkrankung auf den Impfstoff zurückzuführen ist. Eine Transverse Myelitis könnte etwa auch auf die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose oder eine anderweitige Viruserkrankung zurückzuführen sein.
"Es fehlen Details, welche die Entscheidung nachvollziehbar machen"
Natürlich habe AstraZeneca großes Interesse an einer schnellstmöglichen Weiterführung der Studie, sagt Wolfgang Becker-Brüser, der als Herausgeber der Fachzeitschrift "arzneitelegramm" regelmäßig Impfstoffe kritisch unter die Lupe nimmt und den vorläufigen Stopp der Studie vergangene Woche bereits als "Weckruf" bezeichnet hatte . Leider fehlten jedoch Details, welche die Entscheidung nachvollziehbar machen würden.
Immerhin habe die britische MHRA grünes Licht gegeben, sagt der Arzt und Apotheker. Das habe natürlich eine gewisse Bedeutung, denn die Entscheidung sei nicht nur von der Firma selbst getroffen worden. Dennoch bliebe die Informationspolitik von AstraZeneca unzureichend.
Laut Oxford-Universität , die den Impfstoff mitentwickelte, wurden weltweit bereits rund 18.000 Probandinnen und Probanden im Rahmen von klinischen Studien mit dem Impfstoff AZD1222 geimpft. Der Impfstoff durchläuft derzeit Studien der Phase II/III in Großbritannien und Indien sowie Studien der Phase III in Brasilien, Südafrika und in den USA. Ob auch die zuständigen Behörden in diesen Ländern die Fortsetzung der Studie als sicher eingestuft haben, darüber gibt AstraZeneca keine Auskunft.
Stattdessen verkündete der AstraZeneca-CEO Pascal Soriot am Samstag die Entscheidung offenbar hinter verschlossenen Türen bei einem Treffen, das von der Investmentbank J.P. Morgan organisiert wurde. So berichtet es die "New York Times" . Das US-Blatt fordert ebenso eine größere Transparenz der Pharmafirmen bei der Covid-19-Impfstoffentwicklung: Das stärke auch das Vertrauen in der Bevölkerung. Vor allem in den USA wirkt das Vorpreschen der Zulassungsbehörde FDA wie ein Wahlkampfakt: Sie will noch im Oktober einen Impfstoff der Firmen Pfizer und Biontech zulassen.
Unter anderen Umständen ist es Standard, dass Pharmafirmen Details zu klinischen Studien bis zu ihrem Abschluss zurückhalten, um ihr geistiges Eigentum und den Wettbewerbsvorteil zu wahren. Doch in Zeiten, in denen es darum geht, dass ein Impfstoff möglicherweise eine Pandemie beenden kann - aber eben nur, wenn sich auch genügend Menschen impfen lassen -, ist Vertrauen in die Sicherheit eines Vakzins unerlässlich.
Wie viele Menschen darf man gefährden, um andere zu schützen?
"Wir hatten noch nie eine so wichtige klinische Studie - oder mehrere klinische Studien - in der jüngeren Geschichte", sagt der Molekularbiologe Eric Topol vom Scripps Research Institut in Kalifornien der "New York Times" zufolge. "Alles sollte transparent sein."
Also auch die Gründe, warum eine Impfstoffstudie zunächst unterbrochen und dann wieder fortgesetzt wird. Verwunderlich ist nämlich: AstraZeneca schreibt diesmal - anders als beim ersten Studienstopp - nicht eindeutig, dass die Untersuchung ergeben hat, dass kein Zusammenhang zwischen der Studie und der Erkrankung der Probandin besteht.
Bei der Zulassung von Impfstoffen spielt immer auch eine Nutzen-Risiko-Abwägung eine Rolle. Abgewogen werden müssen dann die Risiken des Impfstoffs mit den Risiken einer Covid-19-Erkrankung. Also kurz: Kann man der Weltbevölkerung einen Impfstoff zumuten, der in sehr wenigen Fällen zu Nebenwirkungen führen kann - wenn man damit jedoch viele Menschen schützen kann?
"In Bezug auf Covid-19 kann man nicht sagen, wie viele Menschen man durch eine Impfung gefährden darf, um andere zu schützen", sagt Becker-Brüser dazu. "Aber es wäre inakzeptabel, einen Impfstoff auf den Markt zu bringen, der so schwerwiegende Reaktionen wie Transverse Myelitis hervorrufen kann."