Corona-Shutdown Diese acht Fachleute beraten Bundesregierung und Länderchefs

Bundeskanzleramt in Berlin: Hier treffen sich die Chefinnen und Chefs der Bundesländer mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Corona-Krisengipfel
Foto:Andreas Gora / imago images
Am Dienstag steht der nächste Corona-Krisengipfel bevor. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gemeinsam mit den Chefinnen und Chefs der Bundesländer über das weitere Vorgehen sprechen. Zur Debatte steht, den derzeitigen Shutdown bis Mitte Februar zu verlängern und eventuell zu verschärfen.
Strengere Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und eine bundesweite FFP2-Maskenpflicht könnten dann zu den bisherigen Regelungen hinzukommen. Auch eine Homeoffice-Pflicht für Beschäftigte, die nicht im Unternehmen vor Ort sein müssen, um arbeiten zu können, wird derzeit diskutiert.
Hintergrund der Forderungen ist die Sorge, dass neue, deutlich ansteckendere Viruslinien die Eindämmung des Virus zusätzlich erschweren könnten, wenn sie sich in Deutschland ausbreiten. Nach SPIEGEL-Informationen sollen acht Expertinnen und Experten die Regierenden am Montagabend über den Sachstand informieren.
Das Gremium im Überblick:
Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts (RKI)

Lothar Wieler im Dezember 2020
Foto: TOBIAS SCHWARZ / REUTERSWieler ist Tiermediziner und Chef des RKI. Er gilt als Deutschlands oberster Seuchenschützer. Er berät die Regierung seit Beginn der Pandemie und äußert sich regelmäßig auf Pressekonferenzen. Am vergangenen Donnerstag plädierte er dabei für härtere Maßnahmen gegen die Virusausbreitung.
»Diese Maßnahmen, die wir jetzt machen – für mich ist das kein vollständiger Lockdown«, sagte er. Es gebe noch immer zu viele Ausnahmen und die Vorgaben würden nicht stringent durchgeführt. Mit Blick auf die ansteckenderen Corona-Mutationen aus Großbritannien und Südafrika äußerte er sich besorgt: »Es besteht die Möglichkeit, dass sich die Lage noch verschlimmert.«
Zwar deutet die Zahl der Menschen, die in Deutschland mit Covid-19 auf Intensivstationen behandelt werden, derzeit auf eine leichte Besserung der Situation hin. Klar ist jedoch auch, dass es bislang nicht gelungen ist, die Infektionsraten so stark zu senken, dass es wieder möglich ist, die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren.
Christian Drosten, Chef der Virologie an der Charité

Christian Drosten auf einer Pressekonferenz im Oktober 2020
Foto: Markus Schreiber / dpaDrosten ist Mediziner mit dem Fokus auf Viruserkrankungen. Er hat als junger Forscher erstmals das Sars-1-Virus entschlüsselt, das sich in den Jahren 2002 und 2003 in zahlreichen Staaten ausgebreitet hat. Als einer der weltweit führenden Spezialisten für Coronaviren berät er die Bundesregierung seit Beginn der Pandemie.
Drosten ging früh davon aus, dass die Corona-Mutation aus Großbritannien schon in Deutschland ist. Gleichzeitig verwies er immer wieder darauf, dass die bekannten Gegenmaßnahmen, sprich Kontaktreduktionen, auch helfen, um die Ausbreitung der neuen Viruslinien zu reduzieren.
Gemeinsam mit mehr als 300 Forscherinnen und Forschern hat Drosten eine Forderung im Fachblatt »Lancet« unterzeichnet, die Fallzahlen in ganz Europa drastisch zu senken (mehr dazu lesen Sie hier). Auch Wieler, Michael Meyer-Hermann und Melanie Brinkmann haben unterschrieben.
Michael Meyer-Hermann, Abteilungsleiter System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI)

Michael Meyer-Hermann ist auch Professor an der Technischen Universität Braunschweig
Foto:Julian Stratenschulte / dpa
Meyer-Hermann ist Physiker und modelliert den Verlauf der Corona-Pandemie im Computer. Im Mai hat er gemeinsam mit dem Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, einen Leitfaden zur Eindämmung der Pandemie erarbeitet , in dem auch wirtschaftliche Interessen berücksichtigt wurden. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass zu viele Lockerungen zu erhöhten gesamtwirtschaftlichen Kosten und zu substanziell mehr Covid-19-Toten führen würden.
Am Freitag interpretierte Meyer-Hermann im »Deutschlandfunk« die aktuellen Fallzahlen: »Im Moment sind die Hinweise eher darauf, dass sie sich auf einem horizontalen Niveau mit leicht abfallender Tendenz bewegen, was dann dafür sprechen würde, dass der Lockdown in der jetzigen Stärke noch nicht stark genug ist, um unsere Fallzahlen in absehbarer Zeit tatsächlich zu senken.«
Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI)

Gérard Krause steht vor dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig
Foto: Julian Stratenschulte / dpaDer 56 Jahre alte deutsche Arzt war lange am Robert Koch-Institut in Berlin tätig, ehe er nach Niedersachsen wechselte. Krause beschäftigt sich intensiv mit der Ausbreitung von Viren und den dahinter liegenden Mechanismen. Er hat eine Software entwickelt, um die Ebola-Ausbrüche in Westafrika vor einigen Jahren besser überwachen zu können.
Krause gilt als Verfechter von sehr zielgerichteten Maßnahmen. Er hat sich mehrfach kritisch zu breiten Strategien zur Eindämmung der Pandemie geäußert. So forderte er immer wieder besser Konzepte zum Schutz von Risikogruppen wie alten Menschen. Dazu fehlte ihm ein klares Bekenntnis, sagte er im Oktober – kurz nachdem Bund und Länder die einschneidendsten Maßnahmen seit dem großen Lockdown im Frühjahr beschlossen hatten.
Krause schlug damals vor, in Pflegeheimen flächendeckende Antigen-Schnelltests durchzuführen oder FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen. Erst kürzlich betonte er erneut in der »Tagesschau« die höhere Wirksamkeit von FFP2-Masken. Im Oktober hatte er auch die Sinnhaftigkeit von Sperrstunden in der Gastronomie infrage gestellt. »Wir arbeiten uns an Schulklassen und kleinen Betrieben ab, statt uns den Herausforderungen zum direkten Schutz der älteren Bevölkerung zu stellen«, sagte er dem SPIEGEL.
Zudem gehörte Krause auch sehr früh zu den Kritikern des inzwischen gesetzlich verankerten Inzidenzwerts von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. Der Wunsch nach einem verbindlichen Schwellenwert sei zwar verständlich, aber er habe keine wissenschaftliche Grundlage. Tatsächlich hatte die Bundesregierung den Wert festgelegt, weil die Gesundheitsämter bis zu dieser Schwelle gerade noch in der Lage sind, Kontakte nachzuverfolgen. Laut Krause sei es aber wichtiger, andere Indikatoren einzubeziehen, wie etwa die Zahl der freien Intensivbetten oder stärker auf die Altersverteilung der Erkrankten zu schauen.
Cornelia Betsch, Psychologieprofessorin an der Universität Erfurt im Bereich Gesundheitskommunikation
Betsch ist die Meinungsexpertin in Deutschland, wenn es um Corona geht. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit Themen wie Impfskepsis und Impfgegnerschaft. Zusammen mit Partnern wie beispielsweise dem Robert Koch-Institut und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betreibt sie die »Cosmo«-Umfragen . Dabei werden regelmäßig die Meinungen der Deutschen rund um Corona ausgewertet.
In der Pandemie kommt Betsch eine wichtige Funktion zu, denn die Datenauswertungen ihres Teams zur Impfbereitschaft geben Aufschluss darüber, wie schnell die Impfungen in Deutschland durchgeführt werden könnten und wie erfolgreich die Impfkampagne ist.
Auch über das Vertrauen der Deutschen in die Sicherheit der Impfstoffe sagen ihre Umfragewerte etwas aus. Gut möglich, dass sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten von Betsch Antworten auf die Frage erhoffen, welche Maßnahmen wie gut von der Bevölkerung akzeptiert werden.
Rolf Apweiler, Direktor des Europäischen Instituts für Bioinformatik (EMBL-EBI)

Der Direktor des Europäischen Instituts für Bioinformatik, Rolf Apweiler
Foto: Carrie Tang / EBIApweiler ist in Deutschland im Verlauf der Pandemie bisher höchstens Fachleuten ein Begriff gewesen. Bei den Beratungsgesprächen dürften ihm nicht nur die Politiker, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft gespannt zuhören. Der Deutsche arbeitet in Großbritannien und leitet dort zusammen mit einem Kollegen eines der weltweit wichtigsten molekularbiologischen Zentren.
Das Team im Institut in Hinxton in der Nähe von Cambridge kennt sich bestens mit Big Data aus. Das heißt, es erstellt, verwaltet und analysiert große Datensätze mit Genomsequenzen oder Proteinen – seit April auch zur Entwicklung der Pandemie. Apweiler ist Biochemiker und hat an der Universität Heidelberg promoviert. Unter seiner Führung betreibt das EMBL-EBI eine europäische Covid-19-Datenplattform, die Wissenschaftlern diese Daten zur Verfügung stellt.
Apweiler dürfte bei den Beratungen vor allem Erkenntnisse zur Verbreitung der Mutation B.1.1.7 vortragen. In dieser Funktion hat er vergangene Woche Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Informationen versorgt. Die genetisch veränderte Variante des Virus sorgt Epidemiologen derzeit sehr, da sie sich vermutlich schneller verbreitet und in Großbritannien sowie Irland nach bisherigen Erkenntnissen zu sprunghaften Anstiegen der Fallzahlen geführt hat. Wie stark die Ausbreitung der bereits hierzulande nachgewiesenen Mutation verlaufen könnte, sind Fragen, die Apweiler beantworten soll.
Melanie Brinkmann, Professorin für Virologie an der TU Braunschweig

Virologin Melanie Brinkmann
Foto: Jürgen Heinrich / imago images/Jürgen HeinrichEine weitere renommierte Virologin in dem Expertengremium ist Melanie Brinkmann. Seit 2010 ist sie Leiterin der Forschungsgruppe »Virale Immunmodulation« am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, seit 2018 Professorin am Institut für Genetik an der Technischen Universität Braunschweig.
In der ARD-Sendung »Anne Will« sprach sich Brinkmann zuletzt für schärfere Maßnahmen im Berufsleben aus. Der Arbeitsplatz sei ein Bereich, wo noch mehr Kontakte eingeschränkt werden könnten. Derzeit gebe es noch viel weniger Menschen im Homeoffice als im Frühjahr.
Wichtig sei, zu verhindern, dass sich Menschen bei der Arbeit träfen und vielleicht noch zusammen essen gingen oder im Pausenraum die Masken abnähmen. »Das sind Maßnahmen, die sind jetzt ganz, ganz wichtig«, so Brinkmann. »Wir müssen wirklich noch mal richtig dolle draufhauen«, appellierte die Virologin. »Und je doller und schneller wir Virusübertragungen jetzt unterbrechen können, desto besser.«
Brinkmann gehört auch zu einer Gruppe Forschern, die zuletzt für eine »No Covid«-Strategie warb. Dabei sollen die Ansteckungsraten so weit gesenkt werden, dass höchstens noch einige wenige Fälle auftreten – die Inzidenzwerte sinken praktisch auf nahezu null. Das soll mit einem sehr strengen Lockdown erreicht werden, bei dem die Wirtschaft überall dort, wo es möglich ist, für eine Zeit lang stillgelegt wird. Die Virologin wird also bei den Beratungsgesprächen sehr wahrscheinlich für schärfere Maßnahmen eintreten.
Kai Nagel, Professor für Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin

Der Physiker und Verkehrsexperte Kai Nagel
Foto: Marcel Rieser / CC-BY-SA 4.0Nagel ist der Verkehrsexperte bei der MPK. Der Physiker hat zusammen mit einem Kollegen ein bekanntes Modell zur Simulation des Straßenverkehrs entwickelt, das Nagel-Schreckenberg-Modell. Seit der Pandemie beschäftigt sich Nagel mit der Mobilität der Deutschen und überträgt Daten zur Ausbreitung des Virus auf Verkehrs- und Bewegungsmodelle. Dazu verwendet er beispielsweise anonymisierte Mobilfunkdaten.
Im April, während des Frühjahrslockdowns, hatte Nagel und sein Team beispielsweise Simulationen mit verschiedenen Wiedereröffnungsszenarien für Berlin erstellt. Dafür entwarfen die Forscher ein Modell, das auch anschließend weiterentwickelt wurde. Sie berücksichtigen beispielsweise, welchen Einfluss die Öffnung von Kindergärten und Schulen damals hatten und warnten: Laut ihren Simulationen würde das Infektionsgeschehen wieder aufflammen, sollte man diese Institutionen vollständig und ohne weitere ergänzende Gegenmaßnahmen öffnen.
Er hatte regelmäßig Berichte an die Bundesregierung geliefert. Bereits im letzten Report von Anfang Dezember äußerte er sich skeptisch zu den Folgen von Weihnachten und Silvester. Selbst wenn die Bevölkerung weitgehend auf private Treffen an den Feiertagen verzichten würde, werde es mindestens bis zum Frühjahr dauern, bis die Kontaktnachverfolgung wieder in vollem Umfang greift. Ob Nagel für die aktuelle Situation zu ähnlichen Einschätzungen kommen wird, ist nicht bekannt.
Anmerkung: In einer früheren Version des Textes war von sieben Expertinnen und Experten die Rede. Tatsächlich sind es acht. Wir haben Melanie Brinkmann in der Übersicht ergänzt.