Tracking-Apps gegen das Coronavirus Unbemerkt ansteckend

Sie fühlte sich gesund, doch wenige Tage später fing ihr Kollege an zu husten. Ohne es zu wissen, hatte eine Geschäftsreisende aus China das Coronavirus Ende Januar nach Deutschland gebracht. Das Besondere an dem Fall: Die Frau hatte den Erreger weitergegeben, bevor sie selbst krank wurde. Erst auf ihrer Rückreise zeigten sich erste Symptome.
Solche präsymptomatischen Übertagungen könnten in der Corona-Pandemie eine größere Rolle spielen als bisher gedacht, berichten Forscher der Oxford University im Fachblatt "Science" . Demnach könnten sie ein Drittel bis die Hälfte der Infektionen ausmachen.
Manuelle Kontaktverfolgung zu langsam?
Die Schlussfolgerung der Forscher: Es reicht nicht, positiv getestete Menschen nach ihren Kontaktpersonen zu befragen, um eine weitere Ausbreitung des Virus zuverlässig zu verlangsamen. Dafür breitet sich die Epidemie zu schnell aus. Die Wissenschaftler sprechen sich deshalb für Warn-Apps aus, die alle Menschen, die sich in der Nähe eines positiv Getesteten aufgehalten haben, automatisch informieren. Wenn sie schnell und weiträumig eingesetzt werden, könnten sie die Zahl der Ansteckungen deutlich reduzieren und Ländern dabei helfen, Beschränkungen allmählich zurückzufahren.
Obwohl weltweit inzwischen mehr als 870.000 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet wurden, lässt sich nur in wenigen Fällen rekonstruieren, wann und bei wem sich die Betroffenen angesteckt haben. Für ihre Analyse sammelten die Forscher deshalb 40 Fälle aus acht Ländern, bei der die Infektionskette besonders gut dokumentiert war, darunter war auch die beschriebene Ansteckung in Bayern.
Es zeigte sich, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Drittel bis die Hälfte der Infizierten bei Menschen ansteckten, die sich noch gesund fühlten. Das deckt sich mit Schätzungen für Singapur, wo etwa 48 Prozent der erfassten Ansteckungen noch vor dem Auftreten von Symptomen passierten. In Wuhan berichteten sogar 83 Prozent von 200 nachweislich Infizierten, keinen Kontakt zu Menschen mit Erkältungssymptomen gehabt zu haben. Wie zuverlässig ihre Aussagen sind, lässt sich jedoch nur schwer beurteilen.
Kaum eine Rolle bei der Ansteckung scheinen dagegen Menschen zu spielen, die überhaupt nicht krank werden. Vermutlich kann sich das Virus bei ihnen nicht genug ausbreiten, um auf andere überzuspringen.
In einem zweiten Schritt speisten die Forscher ihre Erkenntnisse zur Ausbreitung des Virus in ein mathematisches Modell ein, das die Frühphase der Corona-Epidemie in China nachspielte. An diesem Modell testeten sie, wie sich Maßnahmen zur Eindämmung auswirkten.
Das Ergebnis: Selbst, wenn alle mit Symptomen konsequent in Quarantäne gingen, ließ sich das Virus nicht sicher aufhalten. Die Zahl der präsymptomatischen Übertragungen reichte im Schnitt knapp, damit sich der Erreger weiterverbreiten konnte. Das unterscheidet ihn von eng verwandten Coronaviren wie Sars, das kaum übertragbar ist, solange keine Symptome auftreten.
Zudem zeigte sich, dass die manuelle Kontaktverfolgung, bei der im Schnitt drei Tage vergehen, zu langsam war, um die Epidemie einzugrenzen. Zudem geriet das System durch die rasant steigenden Fallzahlen rasch an seine Grenzen. Wurden jedoch in kurzer Zeit alle Kontaktpersonen zu einem nachweislich Infizierten erfasst, konnte der Ausbruch der Epidemie dagegen im besten Fall abgebremst werden, auch ohne einen gesellschaftlichen Lockdown.
Laut den Forschern ließe sich das über eine Corona-Warn-App realisieren. An einem Gerüst für genau solche Anwendungen arbeiten gerade europaweit Forschungsinstitute, Firmen und Behörden. Auch das Robert Koch-Institut (RKI), das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) sind beteiligt. (Mehr dazu lesen Sie hier und hier.)
Das Prinzip des Pan-European Privacy Protecting Proximity Tracing, kurz Pepp-PT: Eine App generiert in regelmäßigen Zeitabständen eine neue, zufällig gewählte temporäre ID-Nummer für jedes Smartphone in der Nähe, die über Bluetooth ausgetauscht werden.
Wird jemand positiv auf das Coronavirus getestet, verrät die im Smartphone gespeicherte Liste, welche Geräte sich in unmittelbarer Nähe aufgehalten haben und mit ihnen auch sehr wahrscheinlich ihre Besitzer. Über einen zentralen Server werden alle informiert, die sich möglicherweise infiziert haben, und gebeten, sich in häusliche Quarantäne zu begeben. (Was das bedeutet, lesen Sie hier.)
Die Nutzer wissen weder, bei wem noch wo sie sich genau angesteckt haben könnten. Apps auf dieser Basis sollen deshalb datenschutzfreundlich sein. Auch die Bundesregierung verspricht sich viel von der Plattform.
Eine App ist kein Ersatz für andere Maßnahmen zur Eindämmung
Laut der offiziellen Website Pepp-PT gehört die Oxford University derzeit nicht zu den Unterstützern. Einer der Autoren der Studie, Christophe Frase, ist allerdings an der Entwicklung einer Corona-App in Großbritannien beteiligt. Im Fachblatt "Science" geben jedoch alle Autoren an, keine Interessenkonflikte zu haben.
Laut ihnen könnten solche Apps ohnehin nur dann funktionieren, wenn:
Menschen, die positiv getestet wurden, weiterhin isoliert werden
Kontaktpersonen ebenfalls in Quarantäne kommen
Allgemeingültige Regeln zum körperlichen Abstand eingehalten werden
Weiter im großen Stil diagnostische Tests gemacht werden
Hygienemaßnahmen strikt befolgt werden
Eine App ist also kein Ersatz für andere Maßnahmen gegen das Coronavirus. Durch sie müssten aber nur diejenigen in Quarantäne, die in Kontakt mit nachgewiesenen Fällen waren. Die Epidemie könnte ohne einen gesamtgesellschaftlichen Lockdown eingedämmt werden. Die Forscher zweifeln jedoch, ob das zum jetzigen Zeitpunkt auch für Europa möglich wäre, wo die Fallzahlen deutlich schneller steigen als zu Beginn der Epidemie in China.
Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass die Technologie geeignet sei, aktuell und schnell die Fallzahlen zu senken, betonte auch einer der Entwickler, Marcel Salathé, gegenüber dem SPIEGEL. Das Ziel sei ihr möglichst breiter Einsatz, wenn das normale Leben wieder in Gang kommt und dann neue Infektionsketten drohen.
Eine App auf dieser Basis könnte zudem vollständigere Daten liefern als die Befragung von positiv Getesteten nach ihren Kontaktpersonen. Denn die können gar nicht wissen, mit wem sie alles im Supermarkt oder im Bus unterwegs waren. Eine App würde diese Daten dagegen automatisch erfassen. Auch wegen dieser Unsicherheit ruft das Robert Koch-Institut schon seit Wochen dazu auf, persönliche Gesprächskontakte von 15 Minuten auf möglichst wenige Menschen zu beschränken, die jeder benennen kann, sollte er in Quarantäne müssen.
Die App hat jedoch einen entscheidenden Haken: Um die Epidemie wirklich eindämmen zu können, müssten sie Schätzungen zufolge 60 Prozent der Bevölkerung freiwillig installieren und die Nutzer müssten sich an die häusliche Quarantäne halten, kontrolliert wird das jedoch nicht.
Fraglich ist auch, wie viele Menschen eine solche Aufforderung bekommen würden. Greift sie nur für diejenigen, die sich in unmittelbarer Nähe des positiv Getesteten aufgehalten haben oder auch deren Kontaktpersonen? Ein Einzelner könnte im Zweifel dafür sorgen, dass Hunderte in Quarantäne müssten, womöglich käme eine solche Aufforderung sogar alle paar Tage. Ob das einen Vorteil gegenüber den aktuell geltenden Regeln bringt, wird sich zeigen müssen. Laut den Pepp-PT-Entwicklern könnte eine App ab Mitte April verfügbar sein.