Sars-Entdecker zu Coronavirus "Die Übertragung scheint erstaunlich schnell zu gehen"

Reisende am Pekinger Bahnhof: Viele tragen einen Mundschutz, um sich vor dem neuartigen Coronavirus zu schützen
Foto: Mark Schiefelbein/ dpaSPIEGEL: Herr Drosten, der sprunghafte Anstieg der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in China beunruhigt: Innerhalb von wenigen Tagen haben sich die Zahlen von 62 auf rund 300 fast verfünffacht. Auch im Ausland wurden bereits Fälle gemeldet. Müssen wir mit einer neuen, weltweiten Pandemie rechnen?
Drosten: Die aktuellen Fallzahlen sind noch zu gering, um das beurteilen zu können. Zwar stimme ich mit meinen britischen Kollegen überein, die die Zahlen weitaus höher einschätzen, als bisher aus den Meldestatistiken hervorgeht. Aber auch daraus lässt sich nicht ableiten, inwiefern wir es mit einer Pandemie zu tun bekommen könnten. In jedem Fall können wir uns aber schon einmal darauf einstellen, dass es auch Einzelfälle in Europa und Deutschland geben wird.
Prof. Dr. Christian Drosten, geboren 1972, ist Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité. Er ist Experte für Coronaviren und berät die Bundesregierung und die EU-Kommission in der Covid-19-Pandemie. Drosten ist Mitentdecker des tödlichen Sars-Virus in der Pandemie 2002/03 und entwickelte Tests zum Nachweis von Coronaviren, Anfang 2020 auch für Sars-CoV-2.
SPIEGEL: Sollten deutsche Flughäfen sicherheitshalber Fieberkontrollen einführen, wie an einigen asiatischen und US-Flughäfen geschehen?
Drosten: Solche Maßnahmen bringen nur bedingt etwas. Zwar kann man durch Fieberkontrollen die Menschen isolieren, die bereits Symptome zeigen. Doch viele werden vermutlich ohne Symptome ihre Reise antreten, weil sie noch in der Inkubationszeit sind. Die ersten Krankheitsanzeichen zeigen sich dann erst nach der Ankunft.
SPIEGEL: Was kann man tun, um die Verbreitung der Krankheit aufzuhalten?
Drosten: Vor allem müssen die chinesischen Behörden jetzt reagieren. Allem Anschein nach tun sie das auch schon. Zum einen gibt es mehr Kontrollen an Orten, an denen sich viele Menschen aufhalten. Zum anderen hat das Zentrum für Krankheitskontrolle in Peking einen Test entwickelt, der jetzt an die Labore im ganzen Land verteilt wird. Das erklärt auch den sprunghaften Anstieg der Krankenzahlen: Der hängt damit zusammen, dass China seine Kapazitäten aufrüstet und die Krankenhäuser nun überhaupt erst in der Lage sind, auf das Virus zu testen.
SPIEGEL: Bei der Sars-Pandemie im Jahr 2002 hat die chinesische Regierung der Öffentlichkeit lange Informationen vorenthalten. Ist es diesmal anders?
Drosten: So scheint es. Wir können anhand der Virussequenz sehen, dass es sich um eine junge Entwicklung handelt. Nichts deutet darauf hin, dass China wochen- oder monatelang eine Verbreitung geheim gehalten hat - das würde man zweifelsfrei in den Virussequenzen erkennen. Ich bin davon überzeugt, dass die chinesischen Behörden die weitere Ausbreitung derzeit effizient bekämpfen.
So unterscheidet sich das aktuelle Coronavirus von Sars
Das aktuelle Coronavirus in China ähnelt genetisch zwar dem Sars-Erreger, der 2002/2003 eine weltweite Pandemie mit Hunderten Toten auslöste. Doch derzeit verlaufen die Infektionen in China offenbar milder. Wissenschaftler können bislang noch nicht vorhersagen, wie sich die Epidemie weiterentwickelt.
Worin unterscheiden sich das Sars-Virus und das aktuelle, bislang unbekannt Coronavirus? Klicken Sie sich hier durch den Steckbrief der beiden Erreger.
Aktuelles Coronavirus
Der Erreger mit dem Namen Coronavirus 2019-nCoV war bis zum 12. Dezember 2019 unbekannt, die Herkunft ist noch unklar. Viele der zu Beginn Betroffenen hatten sich auf einem Fischmarkt in der chinesischen 11-Millionen-Metropole Wuhan aufgehalten, aber nicht alle. Das Coronavirus 2019-nCoV ist zu 70 Prozent genetisch verwandt mit dem Sars-Virus, das im Jahr 2002/2003 eine Pandemie ausgelöst hatte.
Sars (Schweres akutes respiratorisches Syndrom)
Vor der ersten Infektion eines Menschen in der chinesischen Provinz Guangdong im Jahr 2002 war das Virus unbekannt, bis heute ist das Reservoir nicht zweifelsfrei geklärt. Verschiedene Forschergruppen haben genetisch ähnliche Viren in Fledermäusen und asiatischen Schleichkatzen gefunden. Seit 2004 ist kein Fall einer Sars-Infektion mehr bekannt geworden.
Aktuelles Coronavirus
Nach derzeitiger Einschätzung haben sich die meisten Menschen vermutlich bei Tieren angesteckt, aber eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung ist möglich. Mehrere Infizierte haben sich in Krankenhäusern angesteckt.
Sars
Die Fledermäuse oder die Schleichkatzen könnten die ursprünglichen Überträger gewesen sein, bei dem sich Menschen angesteckt hatten. Es gilt als gesichert, dass die Viren von Mensch zu Mensch übertragen wurden etwa beim Husten oder Niesen. Der Erreger überlebte bis zu 24 Stunden ohne Wirt.
Aktuelles Coronavirus
Noch nicht bekannt. Auf Basis der Kenntnisse über Sars und Mers gehen Experten von einer Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen aus.
Sars
Die Inkubationszeit bei den Sars-Infektionen betrug dem Robert Koch-Institut zufolge im Mittel fünf Tage.
Aktuelles Coronavirus
Fieber und Zeichen einer akuten Atemwegsinfektion wie Husten, Halsschmerzen oder Atemnot. In schweren Fällen Lungenentzündung und Nierenversagen.
Sars
Beginn mit hohem Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen, später Lungenentzündungen mit akuter Atemnot, Durchfälle.
Aktuelles Coronavirus
Bislang verlaufen die Erkrankungen offenbar deutlich milder als bei Sars. Gestorben sind bislang nur Menschen, die zuvor schwer chronisch krank waren. Für den europäischen Raum prognostiziert das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten derzeit ein geringes Risiko.
Sars
Das Sars-Coronavirus hatte eine hohe Letalität von durchschnittlich elf Prozent. Das heißt: Elf von einhundert Erkrankten starben an der Infektion. Allerdings waren verschiedene Personengruppen unterschiedlich schwer betroffen.
SPIEGEL: Wie effizient können die Maßnahmen überhaupt schützen, wenn zum anstehenden Neujahrsfest Millionen Chinesen durchs ganze Land reisen und das Virus auch in derzeit noch nicht betroffene Gebiete tragen könnten?
Drosten: Diese Reisewelle kommt tatsächlich zu einem schlechten Zeitpunkt. China muss jetzt abwägen zwischen Maßnahmen, die die Bevölkerung verärgern könnten und ihrer Verantwortung, dieses kleine Zeitfenster zu nutzen, um die Epidemie an einer weltweiten Ausbreitung zu hindern.
SPIEGEL: Vor 18 Jahren haben Sie das Sars-Virus mit entdeckt - und konnten beobachten, wie es sich über die ganze Welt ausbreitete. Kommt die Welt diesmal glimpflicher davon?
Drosten: Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es danach aus, aber das müssen wir in den kommenden Wochen beobachten.
SPIEGEL: Sie haben einen Test für das neue Virus entwickelt, den Sie jetzt weltweit an Labore verteilen. Ist das ein Warnsignal oder eine Vorsichtsmaßnahme?
Drosten: Man sollte die aktuellen Krankheitszahlen nicht unterschätzen, die Übertragung scheint erstaunlich schnell zu gehen. Auch die Mensch-zu-Mensch-Übertragung bereitet natürlich Sorge. Deshalb ist es auch richtig, dass die Weltgesundheitsorganisation am Mittwoch ein Krisentreffen einberufen hat. Lieber ruft man einmal zu viel den internationalen Gesundheitsnotstand aus als einmal zu wenig.
Ende Dezember 2019 traten in der chinesischen Metropole Wuhan mehrere Fälle einer bis dahin unbekannten Lungenkrankheit auf. Die Patientenzahlen schienen zunächst um die 40 Fälle zu stagnieren. Als Ursprung der Krankheit wird ein Tiermarkt in der Elf-Millionen-Metropole vermutet. Er wurde sofort geschlossen und gereinigt.
Am 9. Januar gab die WHO bekannt, dass es sich um einen neuartigen Erreger aus der Familie der Coronaviren handelt. Diese verursachen oft harmlose Erkrankungen wie Erkältungen, aber auch gefährliche Atemwegskrankheiten wie Sars und Mers.
Am 11. Januar wurde der erste Todesfall bekannt: Ein 61-jähriger Krebspatient starb an der Infektion. Die chinesischen Gesundheitsbehörden berichteten, dass sich mehrere Patienten in einem kritischen Zustand befinden. Von einer Ansteckung unter Menschen gingen die Behörden nicht aus, da bisher kein Krankenhausmitarbeiter erkrankt war.
Am 17. Januar beschlossen drei US-Flughäfen, ebenfalls Fieberkontrollen einzuführen, nachdem der zweite Patient an dem Virus in China gestorben war und auch andere asiatische Länder Verdachtsfälle gemeldet hatten.
Am 20. Januar stieg die Zahl der Patienten plötzlich sprunghaft auf mehr als 200 an. Die Gesundheitsbehörde berichtete zudem von 15 infizierten Krankenhausmitarbeitern - ein klares Indiz dafür, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.
Am 21. Januar stieg die Zahl der Patienten weiter auf rund 300, es wird von sechs Todesopfern ausgegangen. Die WHO kündigte für den 22. Januar eine Krisensitzung an.
SPIEGEL: Was würde ein internationaler Gesundheitsnotstand bedeuten?
Drosten: Es wäre dann deutlich einfacher, etwa Reisewarnungen auszusprechen und Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen. In Deutschland sollten sich die Krankenhäuser so oder so jetzt schon einmal darauf einstellen, dass zumindest einzelne Patienten kommen werden, die sich mit dem Virus infiziert haben.
SPIEGEL: Müssen wir in Deutschland Angst haben?
Drosten: Definitiv nicht. Wir haben ein gutes Gesundheitssystem und klare Strukturen. Es ist jetzt wichtig, dass Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte über das Virus informiert werden, damit sie daran denken, wenn Patienten zu ihnen kommen. Bislang sind nur ältere Menschen mit einem schwachen Immunsystem daran gestorben, unter jungen und zuvor gesunden Patienten gab es keine Todesfälle. Noch heute liegen auf deutschen Intensivstationen viele Patienten, die mit ganz normalen Atemwegsinfekten schwer erkrankt sind. Beruhigend ist, dass Intensivmediziner genau wissen, wie man mit schwerwiegenden Atemwegserkrankungen umgeht. Daher gilt es jetzt, die Intensivstationen dafür zu rüsten, falls mehr Patienten kommen.