Chef der Arzneimittelbehörde "Eine Zulassung bedeutet nicht, dass der Impfstoff auch direkt verfügbar ist"

Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, sieht in der möglichen Blitzzulassung eines US-Impfstoffs kein politisches Kalkül. Auch in Deutschland könne es in wenigen Monaten so weit sein.
Ein Interview von Katherine Rydlink
Anfang 2021 könnte es einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 geben

Anfang 2021 könnte es einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 geben

Foto: Tang Ming Tung / Getty Images

SPIEGEL: Herr Cichutek, die US-Arzneimittelaufsichtsbehörde FDA will vielleicht noch vor Abschluss der dritten Testphase einen Impfstoff zulassen. Es heißt, es könnte bereits im Oktober so weit sein - unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen. Ist das Zufall oder politisches Kalkül?

Klaus Cichutek: Wir als Behörde beurteilen nicht die politische Lage in anderen Ländern, sondern wir beurteilen einen Impfstoff auf Basis von wissenschaftlichen Daten. Bei der Nutzen-Risiko-Bewertung eines Produkts gibt es internationale Standards. Dazu gehören auch entsprechende Daten zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit, die in Phase II und III der klinischen Prüfung erworben werden. Nach jahrelanger Zusammenarbeit mit der US-FDA habe ich vollstes Vertrauen, dass auch die Kolleginnen und Kollegen aus den USA sich an diese Standards halten. Allerdings kann es sein, dass bereits bei einer Zwischenauswertung ausreichende Ergebnisse zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vorliegen, die Grundlage für eine Zulassung auch in Europa sein können.

SPIEGEL: Aber gehört dazu nicht auch der Abschluss der Phase III?

Cichutek: In Phase III, bei der Tausende oder sogar Zehntausende Probanden geimpft werden, wird getestet, ob ein Impfstoff wirkt und unbedenklich ist. Dabei gilt grundsätzlich: Man lernt mehr, je mehr Menschen geimpft wurden und wenn man ausreichend Zeit hat, die Geimpften nachzubeobachten. Das Hauptziel eines Covid-19-Impfstoffs ist, dass er Covid-19 oder einen schweren Verlauf verhindert. Ein weiteres wünschenswertes Ziel ist, dass er die Mensch-zu-Mensch-Übertragung verringert. Die in Phase-III-Studien gewonnenen Daten müssen ausreichend sein, um zu beurteilen, ob ein Impfstoff bedenkenlos eingesetzt werden kann und der Nutzen weit gegenüber den Risiken überwiegt. Ich bin mir sicher, dass die FDA sich an diese Vorgaben halten wird.

SPIEGEL: Wenn Sie davon überzeugt sind, dass die US-Kollegen ihre Arbeit gründlich machen, dann müssten ja die Chancen gut stehen, dass dieser Impfstoff auch in Deutschland zugelassen werden kann.

Cichutek: Die Zulassungsentscheidung in Europa wird unabhängig von den Entscheidungen anderer Arzneimittelbehörden auf der Welt durch die Europäische Kommission getroffen. Das heißt, der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA, in der auch das Paul-Ehrlich-Institut vertreten ist, prüft alle vorhandenen Daten selbst und spricht dann unabhängig eine Empfehlung aus, ob der Impfstoffkandidat nach den europäischen Kriterien zugelassen werden kann.

SPIEGEL: Es gibt Hinweise, dass etwa Russland die Daten seines bereits registrierten Impfstoffs "Sputnik V" auf teilweise fragwürdige Weise gewonnen hat. Kann Deutschland es ethisch verantworten, diese überhaupt zu prüfen?

Cichutek: Diese Unterstellung möchte ich nicht kommentieren. Uns liegen dazu keine Informationen vor.

SPIEGEL: Dann anders formuliert: Wie stellt Deutschland sicher, dass andere Länder wissenschaftlich und ethisch korrekt forschen?

Cichutek: Im Paul-Ehrlich-Institut und bei der Europäischen Arzneimittelagentur sind für uns nur Daten relevant, die aus kontrollierten klinischen Prüfungen gewonnen wurden, die international festgelegten Standards, der guten klinischen Praxis, entsprechen - bei denen die Probanden freiwillig teilnehmen, einwilligungsfähig sind, umfassend aufgeklärt wurden und wo neben der Genehmigung der zuständigen Arzneimittelbehörde auch die zuständige Ethikkommission eine positive Stellungnahme vorgelegt hat. Diese Kriterien und auch die Kriterien der guten Herstellungspraxis bei der Impfstoffherstellung werden durch Inspektionen bei den Herstellern, bei Prüfzentren und am jeweiligen Herstellungsort, an denen auch Expertinnen und Experten des PEI beteiligt sind, geprüft.

SPIEGEL: Wäre es nicht einfacher, die gesamte Forschung in Deutschland durchzuführen, als anderen Ländern auf die Finger zu schauen?

Cichutek: Das ist gar nicht möglich. Denn wir haben in Deutschland - zum Glück - viel zu geringe Infektionsraten, um zu aussagekräftigen Wirksamkeitsdaten zu kommen. Eine Phase-III-Studie in absehbarer Zeit und mit einer vertretbaren Anzahl von Probanden würde hier momentan keine Ergebnisse erzielen, es sei denn, man würde Personenkreise mit hoher Infektionsrate finden und dort prüfen. Daher werden die Wirksamkeitsstudien derzeit in Ländern mit sehr hohen Infektionszahlen erhoben.

Klinische Prüfung der Impfstoffentwicklung in drei Phasen

Bis ein Impfstoff zugelassen wird, muss er in drei Phasen klinisch geprüft werden. Damit das Paul-Ehrlich-Institut einen potenziellen Impfstoff für eine klinische Studie am Menschen zulässt, muss ein Hersteller zunächst Daten vorlegen, dass der Stoff bereits ausreichend präklinisch getestet wurde – etwa in Tierversuchen.

Phase I: Der Impfstoff wird einer kleinen Gruppe von freiwilligen Gesunden verabreicht. Es wird beobachtet, ob das Mittel den Zielbereich im Körper erreicht und dabei keine akuten Nebenwirkungen auftreten.

Phase II: Erst wenn die Phase I erfolgreich war, kann der Impfstoff in Phase II einer größeren Teilnehmerzahl verabreicht werden, die der Risikogruppe entstammen. Im Fall von Covid-19 wären das ältere Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen. In dieser Phase werden die Wirksamkeit des Impfstoffs bei der Verhinderung der Krankheit und die geeignete Dosierung getestet.

Phase III: Danach kann der Impfstoff an einer repräsentativen Gruppe von Freiwilligen getestet werden – bis zu 10.000 Probanden werden dabei geimpft. In Phase III werden die Wirksamkeit, die Sicherheit sowie die Dosierung der Impfung bestätigt. Unerwünschte Ereignisse, wie etwa ein besonders schwerer Krankheitsverlauf durch die Gabe des Impfstoffs, können ausgeschlossen werden.

SPIEGEL: Und welche Kandidaten schätzen Sie dabei als aussichtsreich ein?

Cichutek: Die Daten liegen uns noch nicht vor. Aber natürlich gelten besonders diejenigen Covid-19-Impfstoffkandidaten als vielversprechend, die bereits in der finalen Testphase und damit weiter als die anderen sind: Das sind mit heutigem Stand nach der WHO-Liste insgesamt acht Produkte. Ich denke, dass uns zu diesen Kandidaten als Erstes die Zulassungsunterlagen vorliegen werden. Vielleicht erste schon bis Ende des Jahres.

SPIEGEL: Trotz der von Ihnen beschriebenen deutschen Sorgfalt haben die Vorstöße aus den anderen Ländern viele Menschen verunsichert. Wenn es dann hierzulande ein Impfstoffprodukt gibt...

Cichutek: ...hoffentlich mehrere!

SPIEGEL: Also wenn dann Impfstoffe zugelassen sind - wie vermittelt man den Menschen, dass sie keine Angst vor der Impfung oder deren Nebenwirkungen haben müssen, selbst wenn die Vakzine vielleicht im Ausland erforscht wurde?

Cichutek: Wir alle legen größten Wert darauf, dass die im zentralisierten Verfahren in Europa und damit auch in Deutschland zugelassenen Impfstoffe umfangreich und auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen begutachtet wurden. Es sollte wahrgenommen werden, dass hier mit der üblichen Sorgfalt vorgegangen wird. Denn wir entscheiden mit Verstand, welche Entwicklungsprozesse wir aufgrund der Dringlichkeit beschleunigen können. Uns ist wichtig, dies transparent zu machen, außerdem soll jeder die Möglichkeit haben, sich umfassend zu informieren und auf dieser Basis zu entscheiden, ob er sich impfen lassen will. Aber ich kann sagen: Die Menschen können darauf vertrauen, dass der Nutzen eines hier zugelassenen Impfstoffs gegenüber den Risiken weit überwiegt und dass zugelassene Impfstoffe wirksam und unbedenklich sind. Aber der Erkenntnisgewinn nimmt mit der Anzahl Geimpfter und der Zeitdauer der Impfeinführung natürlich zu. Wir können davon ausgehen, dass zugelassene Covid-19-Impfstoffe Leiden durch Covid-19 verringern werden.

SPIEGEL: Zuletzt haben Sie gesagt, das könnte bereits Anfang 2021 so weit sein. Können wir also im Sommer nächsten Jahres wieder auf Festivals tanzen - ohne Masken und Abstand?

Cichutek: Das wissen wir nicht. Eine Zulassung bedeutet noch nicht, dass der Impfstoff auch direkt für alle verfügbar ist. Wir gehen davon aus, dass Impfstoffentwickler bereits jetzt ihre Herstellungskapazitäten erweitern und dabei auch das Risiko eingehen, vielversprechende, aber noch nicht zugelassene Impfstoffkandidaten herzustellen, sodass sie nach einer potenziellen Zulassung zeitnah verfügbar sind. Aber bevor Impfungen beginnen, muss die Ständige Impfkommission auch erst einmal Impfempfehlungen herausgeben und festlegen, in welcher Reihenfolge und welche Personenkreise zuerst geimpft werden sollten. Das heißt, selbst wenn Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres ein Impfstoff zugelassen würde, wird es davon abhängen, wie schnell große Mengen des Impfstoffs verfügbar sind, wie schnell und wie umfassend die Bevölkerung sich impfen lässt und wie sich die Pandemie überhaupt entwickelt. Aber die Hoffnung ist da, mit den Covid-19-Impfstoffen weitgehend zum alten Leben zurückkehren zu können.

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