Ausbreitung des Virus Warum gibt es in Italien so viele Infektionen?

In kaum einem anderen Land haben sich so viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert wie in Italien. Hinzu kommt eine hohe Sterblichkeit. Die Gründe sind vielfältig - auch Pech war im Spiel.
Mann mit Schutzmaske vor dem Kolosseum in Rom: Die älteste Gesellschaft Europas

Mann mit Schutzmaske vor dem Kolosseum in Rom: Die älteste Gesellschaft Europas

Foto: ALBERTO PIZZOLI/ AFP

Mehr als 10.100 Menschen haben sich laut dem aktuellen Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Mittwoch  bislang in Italien mit dem Coronavirus infiziert. Das ist der höchste Wert außerhalb Chinas und mit Abstand die höchste Zahl in Europa.

Zum Vergleich: Die zweitmeisten Fälle in Europa weist Frankreich auf mit gut 1700, Deutschland landet mit ungefähr 1300 Fällen hinter Spanien auf Platz vier. Und noch etwas fällt auf: Gut 630 Menschen sind in Italien bislang am Virus gestorben. Das entspricht nicht nur der mit Abstand höchsten Fallzahl in Europa, auch die Todesrate ist mit gut sechs Prozent ungewöhnlich hoch.

In China, wo es laut WHO inzwischen etwa 81.000 Infektionen gab, liegt der Wert bei unter vier Prozent, weltweit hat die WHO  eine Sterblichkeit zwischen drei und vier Prozent errechnet. Von 100 nachweislich mit dem Coronavirus Infizierten sterben im Schnitt also drei bis vier, in Italien sind es mehr als sechs.

Kleiner Unterschied, große Wirkung

Das mag nach einem geringen Unterschied klingen. Nimmt man die Zahl der bislang Infizierten, wären mit einer geringeren Rate von 3,5 Prozent jedoch gut 270 Menschen weniger gestorben. Je mehr Infizierte es gibt, desto größer wird der Unterschied in absoluten Zahlen. Was also ist besonders am Ausbruch in Italien?

Foto: MARCO OTTICO/EPA-EFE/Shutterstock

Um Missverständnisse und Panik zu vermeiden, zunächst ein Hinweis: Experten gehen davon aus, dass es viele unentdeckt Infizierte gibt. Tatsächlich könnte die weltweite Sterberate also deutlich unter den oben genannten Zahlen liegen. Virologen schätzen einen tatsächlichen Wert von 0,7 Prozent.

Für die ungewöhnlich hohe Todesrate unter nachweislich Infizierten in Italien gibt es vermutlich mehrere Gründe: Zum einen das Alter der Gesellschaft. Die italienische Bevölkerung ist die älteste in Europa. Der Altersmedian liegt bei 46,3 Jahren , die Hälfte der Menschen im Land haben also ein höheres Alter erreicht als dieses. In Gesamteuropa liegt der Wert bei 43,1 Jahren. In älteren Gesellschaften gibt es mehr Menschen mit Vorerkrankungen, die anfälliger für schwere Krankheitsverläufe sind.

Überlastetes Gesundheitssystem

In Italien kommt dazu, dass die Zahl der Infektionen zu Beginn sehr schnell und sehr stark angestiegen ist - deutlich extremer als bislang in Deutschland und Frankreich. Eine massenhafte Ausbreitung des Virus ist das größte Risiko, das aktuell von ihm ausgeht. Wenn zu viele Menschen auf einmal erkranken, besteht die Gefahr, dass nicht mehr alle schweren Fälle angemessen im Krankenhaus behandelt werden können, weil Ressourcen fehlen.

Auch in Deutschland geht es deshalb aktuell in erster Linie darum, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Oder anders gesagt: die exponentielle Ausbreitung zu verlangsamen (mehr zur Besonderheit einer exponentiellen Ausbreitung lesen Sie hier). Genau diese exponentielle Ausbreitung gibt es in Italien. Sie hat möglicherweise dazu geführt, dass nicht alle Patienten optimal versorgt werden konnten, weil es zu viele auf einmal waren.

Darauf deuten auch die Zahlen aus der chinesischen Provinz Hubei hin, in der die Epidemie ihren Ursprung genommen hat. Dort sind von inzwischen fast 68.000 Infizierten mehr als 3000 gestorben - das entspricht einem Anteil von etwa 4,5 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass auch die dortigen Krankenhäuser während des heftigen Ausbruchs in Wuhan überlastet waren. Inzwischen hat sich die Lage deutlich beruhigt.

Unbemerkte Ausbreitung

In Italien breitet sich das Virus derweil weiter in hohem Tempo aus. Dort gab es laut WHO im zuletzt erfassten 24-Stunden-Zeitraum fast 980 neue Fälle . Die hohen Zahlen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass das Virus zu Beginn mehrere Wochen unbemerkt zirkulierte. Die ersten drei Fälle in dem Land wurden Ende Januar bekannt, darunter zwei chinesische Touristen. Sie wurden isoliert und Kontaktpersonen ermittelt. Italien stellte kurz darauf den Flugverkehr von und nach China ein, als eines der ersten Länder weltweit.

Der Ausbruch schien unter Kontrolle, doch die Realität war eine andere: In der Lombardei im Norden des Landes hatte sich das Virus offenbar seit Mitte Januar heimlich über eine andere Infektionskette ausgebreitet. Wer den Erreger als Erstes in die Region gebracht hat, ist bis heute unklar. Vieles ist denkbar: In Norditalien liegen sowohl das wirtschaftliche Zentrum des Landes als auch beliebte Touristengebiete - der internationale Austausch ist groß.

Experten zufolge hätte das überall passieren können. Zusätzlich gab es aber offenbar Missverständnisse, die Zeit kosteten, in der das Virus ungehindert weiterwandern konnte. Offenbar waren sich die Regierung und die örtlichen Krankenhäuser nicht einig, wann Personen auf das Coronavirus getestet werden sollten.

"Patient eins" wurde zu spät getestet

So suchte ein kranker 38-jähriger Mann in Italien Mitte Februar seinen Hausarzt und mehrfach sein örtliches Krankenhaus auf, doch niemand untersuchte den Mann auf das Virus, weil er zuvor nicht in China gewesen war. Er infizierte in der Zeit mehrere Kontaktpersonen, bevor er mit 36 Stunden Verspätung isoliert wurde. In der italienischen Presse wurde er als "Patient eins" bekannt.

Unentdeckte Fälle sind deshalb so gefährlich, weil jeder Corona-Infizierte im Schnitt ungefähr drei weitere Menschen ansteckt. Das führt zu einer Kettenreaktion: Der erste Infizierte steckt drei neue Leute an, die infizieren neun, die neun infizieren 27. Und wenn jeder dieser 27 wieder jeweils drei neue Menschen ansteckt, gibt es durch sie 81 neue Infektionen - und so weiter. Die Ausbreitung des Virus lässt sich immer schwieriger aufhalten.

Zudem verzerren unentdeckte Fälle die Statistik. Es ist gut möglich, dass die Sterblichkeit in Italien deutlich unter dem erfassten Wert liegt, weil zahlreiche Fälle mit harmlosem Verlauf nicht eingerechnet sind.

Italien hat inzwischen das ganze Land zur Sperrzone erklärt und die Reise- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Abgesehen von Supermärkten und Apotheken bleiben alle Geschäfte und Restaurants im Land geschlossen. Christian Althaus, der an der Universität Bern die Ausbreitung von Krankheiten modelliert, hält die Abschottung von stark vom Virus betroffenen Gebieten laut "Guardian"  für den richtigen Schritt. Von anderer Stelle kritisiert wurde das Land dagegen für seine Flugverbote.

Direktfluge böten den Vorteil, dass überprüft werden könnte, wer aus China nach Italien einreist, schreibt der italienische Journalist Beppe Severgnini in einem Gastbeitrag in der "New York Times"  vom 2. März. Nun könnten Menschen aus China über andere Länder unbemerkt einreisen.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text enthielt zunächst die zuletzt verfügbaren WHO-Zahlen vom Dienstag und wurde am Abend mit den neuen Werten vom Mittwoch aktualisiert.

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