Epidemiologische Prognosen Wie geht es weiter mit dem Coronavirus?

Sars-CoV-2 unter dem Mikroskop
Foto:HANDOUT/ AFP
Christian Drosten ist der zurzeit wohl meist beschäftigte Virologe Deutschlands. Er ist Experte für das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2, verfolgt dessen Entwicklung seit den Anfängen der Epidemie und berät die Bundesregierung. Über die weltweite Ausbreitung des Virus, das die Lungenkrankheit Covid-19 verursachen kann, sagt er: "Es ist eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe stattfindet."
Doch wie wird diese Naturkatastrophe enden - und können Wissenschaftler schon einschätzen, wie und wann das passiert? Um Ressourcen und Maßnahmen gezielt einsetzen zu können, ist es wichtig, den Verlauf der Infektionsverbreitung möglichst präzise vorzuzeichnen. Das Virus tritt aber zum ersten Mal auf, es liegen bisher nur wenige aussagekräftige Studien über Sars-CoV-2 vor, deswegen ist es schwer, verlässliche Prognosen über die Epidemiologie des Ausbruchs zu treffen.
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
Zu einer definitiven Aussage ließ sich Drosten jedoch hinreißen: "Wir haben es mit einer Infektionswelle ganz am Anfang zu tun", sagte der Leiter der Virologie der Berliner Charité in seinem täglichen NDR-Podcast . "Und wir wissen, dass wir das Virus nicht mehr aufhalten können, wir können es nur verzögern."
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen nun, anhand von Modellrechnungen und Studien mit den bisher bekannten Daten einzuschätzen, wie sich die Coronavirus-Pandemie in Deutschland in den kommenden Wochen entwickeln könnte. Die Daten sind differenziert zu betrachten, da die jeweils gewählten Parameter sich im Laufe des Ausbruchs ändern können. Gesicherte Aussagen etwa zur Sterblichkeit wird die Wissenschaft erst machen können, wenn die Pandemie vorüber ist und eine Gesamtzahl der weltweiten Infektionen und Todesfälle vorliegt.
Bisher sind viele Wissenschaftler davon ausgegangen, dass Sars-CoV-2 - wie etwa auch Influenza-Erreger - in den Sommermonaten zurückgehen würde. Neue Studien weisen nun darauf hin, dass die Viren nicht so empfindlich auf die Temperaturunterschiede reagieren werden, wie anfangs gedacht.
"Meine Einschätzung bezüglich der weiteren Entwicklung in Deutschland hat sich in der vergangenen Woche durch eine Studie geändert: Eine Modellstudie aus den USA prognostiziert, dass Temperatureffekte auf das Virus relativ klein sind", sagte Drosten. "Der Studie nach zu urteilen glaube ich jetzt, dass wir eine durchlaufende Infektionswelle zu erwarten haben und das Maximum der Fälle zwischen Juni und August eintritt." Also sehr viel früher als gedacht.
Forscher der Harvard T.C. Chan School of Public Health hatten die Übertragung von Sars-Cov-2 bis zum Jahr 2025 simuliert. Solche mathematischen Modellstudien sind laut Drosten derzeit die einzige Möglichkeit, Prognosen über den weiteren Verlauf der Pandemie anzustellen. Die Forscher nennen drei Faktoren, die maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung von Sars-CoV-2 in den kommenden Jahren haben werden: die Saisonalität, die Dauer der Immunität und die Stärke der Kreuzimmunität zu anderen menschlichen Coronaviren.
Stirbt der Erreger aus - oder wird Covid-19 saisonal?
Eine Möglichkeit der künftigen Entwicklung von Covid-19 ist, dass der Erreger nach einer heftigen Pandemie "ausstirbt" und nie wieder auftritt. Eine weitere ist, dass das Virus uns ab sofort saisonal begleitet wie etwa die Influenza. Mittlerweile halten Experten das zweite Szenario für wahrscheinlich. Auch die US-Forscher, die Daten aus den Vereinigten Staaten analysiert haben , gehen davon aus, "dass es nach einer Pandemiewelle zu wiederkehrenden Ausbrüchen im Winter kommen wird", wie es in der Studie heißt.
Eine Modellstudie aus Schweden kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. Ihren Rechnungen zufolge geht die Infiziertenzahl in der Bevölkerung jedoch in den Sommermonaten zunächst zurück, um dann Ende des Jahres wieder anzusteigen. Diese Annahme unterstützt auch eine portugiesische Studie , die untersucht hat, inwiefern sich meteorologische Faktoren wie etwa Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf die weitere Verbreitung von Covid-19 auswirken. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Coronavirus im Sommer zwar aufgrund der steigenden Temperaturen zurückgehen könnte. Die jahreszeitlichen Schwankungen der Luftfeuchtigkeit allerdings reichen nicht aus, um eine weitere Übertragung zu verhindern.
Ist man nach überstandener Covid-19-Erkrankung immun?
Ein weiterer Faktor, der sich wahrscheinlich darauf auswirkt, ob und wie wir zukünftig mit Covid-19 leben, ist die Immunität. Bisher liegen noch keine ausreichenden Daten darüber vor, ob eine Person, die bereits mit Sars-CoV-2 infiziert war und dann negativ auf das Virus getestet wurde, sich innerhalb kurzer Zeit erneut anstecken kann.
Ende Februar hatte ein Fall in Japan Diskussionen über einen möglichen zweiphasigen Verlauf von Covid-19 ausgelöst: Eine Frau, die nach einer Covid-19-Infektion als genesen galt, entwickelte noch einmal Symptome und wurde auch ein zweites Mal positiv auf Sars-CoV-2 getestet. Chinesische Forscher berichteten von ähnlichen Fällen. Es könnte aber auch sein, dass Tests nicht richtig durchgeführt wurden und es deshalb zu falschen positiven Ergebnissen kam.
"Man geht davon aus, dass sich Antikörper gebildet haben, wenn jemand die Erkrankung überstanden hat", sagt Isabella Eckerle, die Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten am Universitätsklinikum Genf. Das Virus vermehre sich dann nicht weiter im Körper. Bei Ausbrüchen wie dem jetzigen gebe es jedoch immer Einzelfälle, die sich schwer erklären lassen. "Um die Frage genau beantworten zu können, sind große Studien auch an gesunden Menschen notwendig, die man über Jahre hinweg auf Viruserkrankungen untersucht."
Aber was sagt eine mögliche Immunität über den weiteren Verlauf von Covid-19 aus? Für ihre Modellrechnungen haben die US-Forscher der Harvard Chan School zwei Szenarien simuliert: Eine dauerhafte Immunität gegen das Virus nach überstandener Infektion und eine zeitweise Immunität von einigen Monaten oder Jahren.
Eine dauerhafte Immunität der Patienten hätte den Berechnungen nach zur Folge, dass das Virus nach dem aktuellen Ausbruch für fünf Jahre oder länger verschwinden könnte. Zunächst einmal aber würde sich aufgrund der bislang fehlenden Immunität ein Großteil der Bevölkerung infizieren. Wenn Betroffene jedoch nur für einen kürzeren Zeitraum nach der Infektion immun gegen das Virus sind und sich dann wieder anstecken können, ist es wahrscheinlich, dass das Virus regelmäßig ausbricht - wahrscheinlich jährlich, ähnlich wie die Grippe.
Was passiert, wenn das Coronavirus mutiert?
Ein Virus, das mutiert - das klingt erst mal wie ein schreckliches Szenario. Doch es ist ganz normal, dass ein Virus mutiert. "Wir können uns darauf verlassen, dass das Virus mutiert, das kann man jetzt schon beobachten", sagt Drosten. Man könne jedoch noch nicht sagen, ob das Virus bereits seine Eigenschaften verändert habe - dafür fehlten die Laborbedingungen.
Ein Virus hat immer zum Ziel, seine Übertragbarkeit zu steigern. Wenn das Virus erst einmal in der Bevölkerung existiere, werde es vermutlich so mutieren, dass es sich besser verbreiten kann, sagt Drosten. "Das Virus wird also in der Regel ansteckender, wenn es mutiert." Das habe nichts damit zu tun, dass das Virus auch tödlicher werden würde. Es könnte sogar sein, dass Mutationsprozesse zu milderen Krankheitsverläufen führen - nämlich dann, wenn es eher die oberen Atemwege befällt. Vermehrt es sich beispielsweise im Hals oder in der Nase, könnte es sich leichter übertragen. Die Lunge würde dadurch nicht befallen.