Infektiologe zur Corona-Pandemie Wie sieht die Zukunft nach dem Ausbruch aus?

Zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland werden sich mit dem Coronavirus infizieren. Woher kommt diese Zahl? Und wie wird es danach weitergehen? Fragen an den Infektiologen John Ziebuhr.
Ein Interview von Irene Berres
Deutschland testet: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Corona-Abstrich-Zentrums an der Messe Stuttgart

Deutschland testet: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Corona-Abstrich-Zentrums an der Messe Stuttgart

Foto: Sebastian Gollnow/ dpa

SPIEGEL: Der Alltag in Deutschland verändert sich momentan massiv. Schulen schließen, Fußballspiele werden abgesagt, Besuche bei der Oma ausgesetzt. Wie wird es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen?

John Ziebuhr: Wie genau die nächsten Monate in Deutschland aussehen werden, darüber lässt sich momentan nur spekulieren. Klar ist aber, dass sich das Virus weiter ausbreiten wird. Damit wird sich auch die Zahl der Infizierten sehr schnell, sehr stark erhöhen.

Zur Person
Foto: privat

John Ziebuhr leitet das Institut für Medizinische Virologie an der Universität Gießen. Ein Forschungsschwerpunkt der Arbeitsgruppe ist die Biologie, Evolution und Pathogenese von Coronaviren. Ziel ist unter anderem, Strukturen und Funktionen der Erreger zu entschlüsseln, um bessere Therapien und einen besseren Schutz vor einer Infektion zu ermöglichen. Ziebuhr ist Mitglied der Deutschen und Amerikanischen Gesellschaft für Virologie.

SPIEGEL: Warum weiß man das nicht genauer?

Ziebuhr: Wir haben zwar mittlerweile einige Kennzahlen, aber noch keine gute Datenlage. Problematisch ist vor allem, dass wir nicht genau wissen, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind, weil viele Infizierte keine Beschwerden entwickeln. Außerdem können Infizierte das Virus weitergeben, bevor sie Symptome entwickeln. Das trägt dazu bei, dass sich die Ausbreitung relativ schlecht kontrollieren lässt - vor allem, wenn es Tausende Infizierte gibt und nicht mehr alle Kontaktpersonen zurückverfolgt werden können. Deutschland kommt gerade in diese Phase.

SPIEGEL: Unter anderem die Bundeskanzlerin hat davor gewarnt, dass sich 60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland infizieren werden. Wie kommt diese Zahl zustande?

Ziebuhr: Durch eine grundsätzliche Regel, die eigentlich immer gilt. Aktuell gehen wir davon aus, dass jeder Infizierte in einer Gesellschaft ohne Immunität, wie wir sie momentan noch haben, im Schnitt drei andere Menschen ansteckt. Gestoppt werden kann die Weiterverbreitung des Virus erst, wenn jeder Infizierte nur noch weniger als eine andere Person infiziert. Hatten zwei Drittel der Bevölkerung Kontakt mit dem Virus und sind dadurch immun, fallen von den drei Menschen, die jeder anstecken würde, zwei weg. Das Virus wird dann zwar weiter zirkulieren, aber nicht mehr massenhaft infizierbare Personen finden. So ist zumindest die Theorie.

SPIEGEL: Das heißt aber auch, dass sich das Virus extrem weit verbreiten wird, egal wie sehr wir unseren Alltag einschränken.

Ziebuhr: Ja. Die Frage ist nur, in welcher Zeit. Passiert es innerhalb von sechs Monaten, von zwölf oder dauert es noch länger? Die Maßnahmen sind dazu da, den Ausbruch so weit wie möglich zu verlangsamen. Das ist sehr sinnvoll, damit unser eigentlich gut funktionierendes Krankenhaussystem nicht aufgrund der großen Anzahl an Patienten zusammenbricht, die auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Das ist momentan eine konkrete Gefahr.

SPIEGEL: Eine Hoffnung war ja, dass die Wärme im Sommer die Verbreitung des Virus ein Stück weit stoppen kann. Wie sehen Sie das?

Ziebuhr: Fast alle Atemwegsviren kommen im Sommer deutlich weniger vor, auch Coronaviren reagieren empfindlich auf Hitze und UV-Strahlung. Die Fälle müssten deshalb im Sommer eigentlich zurückgehen. Der Ausbruch jetzt ist aber eine Ausnahmesituation, weil kaum jemand immun ist. Selbst wenn weniger Viren unterwegs sind, können diese deshalb ausreichen, um einen relativ großen Anteil der Bevölkerung zu infizieren.

SPIEGEL: Das bedeutet dann auch, dass wir nicht nur ein oder zwei Wochen auf Fußballspiele und Konzerte verzichten müssen, sondern dass sich die Situation über Monate hinziehen kann.

Ziebuhr: Das ist wahrscheinlich. Wir müssen momentan aber von Tag zu Tag gucken. Wenn wir Glück haben, sinkt die Zahl der Neuinfizierten doch, wenn wir in den Sommer hineinkommen. Dann können wir die Maßnahmen vielleicht ein Stück weit lockern. Bis es so weit ist, müssen wir aber den Plan durchhalten, das Virus so gut wie möglich zu verzögern.

SPIEGEL: Wie sieht die Zukunft nach dem Ausbruch aus? Kann es sein, dass das Virus irgendwann wieder verschwindet, wenn genug Menschen immun sind?

Ziebuhr: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Anhand der Parallelität zu anderen Coronaviren und aufgrund der großen Zahl der derzeit Infizierten kann man davon ausgehen, dass es nicht mehr gelingt, dieses Virus komplett zu eliminieren. Selbst wenn sich ein großer Anteil der Bevölkerung weltweit infiziert und eine Immunität gegen das Virus aufbaut, wird diese innerhalb weniger Jahre wieder nachlassen. Auch so wird das Virus immer wieder nicht geschützte Menschen finden, speziell Kinder.

SPIEGEL: Warum ausgerechnet Kinder?

Ziebuhr: Alle Babys kommen nur mit einer Leihimmunität ihrer Mutter zur Welt. Diese ist relativ flüchtig und bietet nur einen kurzfristigen Schutz für wenige Monate. Kleinkinder müssen deshalb in ihren ersten Lebensjahren eine Immunität gegen all die verschiedenen Viren ausbilden, die bei uns Menschen vorkommen. Kinder sind deshalb meist auch die ersten Opfer der meisten Atemwegsviren. Zum Glück verlaufen aber Infektionen mit Sars-CoV-2 and vielen anderen Erkältungsviren bei ihnen relativ mild.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

SPIEGEL: Was ist mit Erwachsenen, die sich mit dem neuartigen Coronavirus infizieren? Wie lange sind sie anschließend immun?

Ziebuhr: Die Immunität, die jemand im Laufe seines Lebens gegen verschiedene Erkältungsviren aufbaut, ist oft flüchtig. Wer sich jetzt mit dem Virus infiziert, hat vielleicht zwei, drei Jahre oder vielleicht auch etwas länger eine gute Immunität. Dann bekommt das Virus erneut eine Chance. So ist es zumindest bei allen anderen Coronaviren, die wir kennen.

SPIEGEL: Es wird empfohlen, dass gerade ältere Menschen bei einem Verdacht schnell reagieren sollten. Was macht eine frühe Behandlung für einen Sinn, wenn es noch keine Medikamente gibt?

Ziebuhr: Man sollte einfach darauf vorbereitet sein, dass sich der Zustand bei Menschen aus Risikogruppen relativ schnell verschlechtern kann. Dann muss man sehr schnell in der Lage sein, intensivmedizinische Maßnahmen einzuleiten, wozu unter Umständen auch eine künstliche Beatmung gehören kann.

SPIEGEL: Das heißt, dass die Krankheit sehr schnell von milden zu schwerwiegenden Symptomen umschlagen kann?

Ziebuhr: Es gibt viele Beispiele, bei denen es so war. Solange sich die Erkrankung nur in den oberen Atemwegen abspielt, ist sie kein Problem. Sobald man aber eine Lungenentzündung hat, können sich große Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge bilden. Das stört den Gasaustausch zwischen Lunge und Blut, was wiederum das Herz-Kreislauf-System schwer belastet. Das Herz versucht weiterhin, sämtliche Organe ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Wenn es jedoch schon vorgeschädigt oder altersbedingt weniger leistungsfähig ist, kommt es schnell an seine Leistungsgrenze. Dann wird nicht nur das Herz selbst schlechter mit Sauerstoff versorgt, es kann auch den ganzen Organismus nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen. Dadurch droht ein Herzversagen oder sogar ein Multi-Organversagen.

SPIEGEL: Gerade ältere Infizierte sollten deshalb so schnell wie möglich Hilfe holen, wenn sie zum Beispiel Atemnot entwickeln.

Ziebuhr: Auf jeden Fall. Dann ist absehbar, dass auch das Herz massive Mehrarbeit leisten muss, mehr, als es vielleicht im Alter noch leisten kann. Wer schon eine chronische Krankheit hat, sollte außerdem gucken, dass sie so gut wie möglich therapiert ist: dass bei Diabetes zum Beispiel die Medikation gut eingestellt ist und bei Herzerkrankungen der Blutdruck.

SPIEGEL: Was würde es für das deutsche Gesundheitssystem bedeuten, wenn Covid-19 in Zukunft im Winter gleichzeitig mit der Grippe ausbricht?

Ziebuhr: Das wäre schwerwiegend. Die Grippewelle ist dieses Jahr zum Glück mehr oder weniger vorbei. Das muss im nächsten Jahr natürlich nicht so sein. Wenn wir davon ausgehen, dass Sars-CoV-2 auch im nächsten Winter zirkuliert, ist es enorm wichtig, die Grippe-Impfquote so weit wie möglich in die Höhe zu treiben. Es ist bekannt, dass man sich gleichzeitig mit Coronaviren und Influenzaviren infizieren kann. Coronaviren haben außerdem die unangenehme Eigenschaft, dass sie in der Lage sind, die sogenannte Interferonantwort zu unterdrücken - einen bestimmten Strang der Immunreaktion, der eigentlich die Virusausbreitung im Körper unterdrückt. Das könnte auch anderen Viren dabei helfen, sich im Körper auszubreiten.

SPIEGEL: Wie gut ist unser Gesundheitssystem aus Ihrer Sicht grundsätzlich gerüstet für das, was jetzt kommt?

Ziebuhr: Das ist eine Frage der schieren Anzahl an Menschen, die gleichzeitig erkranken. Wenn sich sehr viele Personen infizieren, werden auch viele ältere Menschen darunter sein, die intensivmedizinisch betreut werden müssen. Das ist ein riesiges Problem, auf das sich die Krankenhäuser vorbereiten müssen. Geplante Operationen müssen verschoben werden, man kann aber auch nicht alle zurückfahren. Tumoroperationen etwa sind oft unaufschiebbar, genauso wie Transplantationen, wenn ein Organ nicht mehr funktioniert. Das wird eine Herausforderung, genauso wie Infektionen unseres medizinischen Personals.

SPIEGEL: Was, glauben Sie, kommt da auf uns zu?

Ziebuhr: Wir werden wahrscheinlich in eine Situation kommen, in der sich zunehmend auch Ärzte und Pflegekräfte infizieren, manchmal vielleicht auch unerkannt. Zum Glück verläuft die Infektion bei ganz vielen jungen Erwachsenen sehr mild. Dann wird eine ganz schwierige Frage sein, ob man sicherstellen kann, infiziertes Personal durch regelmäßige Tests zu identifizieren, und ob man infiziertes Personal, das keine Erkrankungssymptome zeigt, vielleicht noch in ausgewählten, weniger kritischen Bereichen einsetzen muss, um die Arbeitsfähigkeit einer Klinik zu erhalten. Um solche Entscheidungen beneide ich keinen Gesundheitspolitiker.

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