Covid-19 Ärzte und Wissenschaftler positionieren sich gegen Shutdown

Bald gibt es wieder strenge Kontaktbeschränkungen - nicht alle finden das sinnvoll
Foto: Matthias Schrader / APEinige Ärzte und Wissenschaftler haben sich gegen ein breites Herunterfahren des Alltagslebens zur Corona-Eindämmung ausgesprochen und stattdessen für mehr Eigenverantwortung geworben. "Eine pauschale Lockdown-Regelung ist weder zielführend noch umsetzbar", sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, in einer virtuellen Pressekonferenz kurz vor der Videoschalte von Bund und Ländern zu neuen Corona-Maßnahmen. Man könne nicht das Land "Wochen und Monate in eine Art künstliches Koma" versetzen, sagte er.
Am Nachmittag beraten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länder-Chefs über eine Beschlussvorlage des Bundes, die deutschlandweit strengere Maßnahmen ab Anfang November vorsieht. Für gut drei Wochen könnten demnach Gastronomiebetriebe und Freizeitangebote geschlossen, der Tourismus eingeschränkt und schärfere Kontaktbeschränkungen erlassen werden. Kitas und Schulen sollen der Beschlussvorlage zufolge geöffnet bleiben.
Der Bund will außerdem Hilfen für Unternehmen verlängern und die Konditionen für hauptsächlich betroffene Wirtschaftsbereiche verbessern (Lesen Sie hier, was in der Beschlussvorlage steht). Mit diesem zeitlich begrenzten Shutdown will die Regierung die aktuell stark zunehmende Infektionsdynamik unterbrechen - auch im Hinblick auf Weihnachten. Ob die Beschlussvorlage aus dem Kanzleramt am Mittwoch eins zu eins bei dem Krisengipfel übernommen wird, ist fraglich. Einzelne Länder haben bereits angekündigt, dass sie etwa im Bereich der Gastronomie Komplettschließungen für falsch hielten.
Gebote statt Verbote
Wie aus der Pressekonferenz der KBV, an der auch die bekannten Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit teilnahmen, hervorging, halten auch einige Vertreter der Ärzteschaft und Wissenschaft einen kurzzeitigen Shutdown für nicht angebracht. In einem Positionspapier, das von zahlreichen Ärzte- und Fachverbänden unterzeichnet wurde, fordern sie, die Strategie zur Pandemiebekämpfung zu ändern. Gleichsam wurde betont, dass das Positionspapier nicht mehr in die Ministerpräsidentenrunde einfließen könne.
Nötig seien zielgerichtete Maßnahmen zur Eindämmung, sagte KBV-Chef Gassen. Es sei falsch, "nur mit düsterer Miene apokalyptische Bedrohungsszenarien aufzuzeichnen". Die Kunst sei aber, keinesfalls zu verharmlosen. Um die Bevölkerung zur Mitarbeit anzuhalten, sollte man "auf Gebote setzen und nicht überwiegend auf Verbote".
Als ein Gebot nannten die Mediziner etwa die Einhaltung der AHA+L-Regeln. Dafür müsse die Bevölkerung kooperieren und mitdenken. Im Positionspapier wird weiterhin ein bundesweites Ampelsystem, eine Abkehr von der Kontaktnachverfolgung und der spezifische Schutz von vulnerablen Gruppen angeregt. Konkrete Handlungsvorschläge gingen aus der Pressekonferenz trotz mehrfacher Nachfragen seitens der Journalistinnen nicht hervor.
"Die Maske muss sexy werden"
"Das sind Diskussionsvorschläge und Anregungen, nicht die ultimative Wahrheit", sagte Hendrik Streeck, Direktor des Institutes für Virologie an der Universität Bonn. "Es geht darum, keinen Schaden anzurichten, und der entsteht für viele Menschen auch durch den Lockdown." Es handle sich bei der Pandemie nicht um einen Sprint, sondern einen Marathon, das müsse die Bevölkerung begreifen: "Wir werden nicht in zwei Monaten mit allem durch sein, wenn wir uns jetzt am Riemen reißen", sagte Streeck. "Selbst wenn ein Impfstoff da ist, werden wir noch jahrelang mit dem Virus zu tun haben." Daher sei es wichtig, dass sich die Bevölkerung daran gewöhne und ihr Verhalten dauerhaft ändere. "Die Maske muss sexy werden", sagte er.
Vor allem zwei Punkte waren den Medizinern in der hitzigen Debatte wichtig: Das Einhalten der AHA+L-Regeln dürfe nicht infrage gestellt werden und sei eine Basisregel in der Pandemiebekämpfung. Weiterhin müsse man den Fokus zunehmend auf die Risikogruppen lenken und sich Konzepte ausdenken, wie man diese besser schützen könne.
Mehr Eigenverantwortung von Risikogruppen gefordert
Gassen schlug dazu vor, dass die Risikogruppen selbst die Verantwortung für ihr Verhalten tragen und etwa ihre Kontakte entsprechend einschränken könnten. Streeck brachte den Einsatz von FFP2-Masken im privaten Bereich und Nachbarschaftshilfe für die ältere Bevölkerung ins Spiel. Auch Schnelltests für Zuhause seien eine Möglichkeit, etwa die Eltern sehen zu können. Letzterer Vorschlag ist Zukunftsmusik: Derzeit gibt es noch keine Schnelltests, die von Laien angewendet werden können und zudem zuverlässig genug sind, um eine Infektion auszuschließen.
Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg sagte, die Kollateralschäden dürften die Schäden der Pandemie nicht übertreffen. Diese Diskussion habe in der Vergangenheit nicht ausreichend stattgefunden, es sei vieles versäumt worden. Die Schutzregeln mit Abstand, Hygiene, Masken und Corona-Warn-App seien eigentlich ausreichend - müssten aber konsequent umgesetzt werden. Es sei richtig, Risikokontakte zu reduzieren. Viele fänden aber zu Hause statt, weniger etwa in Hotels. Darüber müsse besser informiert werden, etwa auch jene Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen. "Da hätte man besser aufklären müssen", sagte er.
Bei der Pressekonferenz wurde deutlich, dass sich nicht nur die Politik, sondern offenbar zunehmend auch die Wissenschaft in zwei Lager teilt. Denn nur einen Tag vorher veröffentlichten die Deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft eine gemeinsame Stellungnahme, die konsequente und strenge Kontaktbeschränkungen nahelegt. Sie ist auf wissenschaftlichen Modellrechnungen begründet.