Datenlese Pillenknick? Kannst du knicken!

Antibabypille: In Deutschland seit den Sechzigern auf dem Markt

Antibabypille: In Deutschland seit den Sechzigern auf dem Markt

Foto: Jörg Lange/ picture alliance / dpa

Die Antibabypille beendete den Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg - so lautet eine beliebte Theorie. SPIEGEL ONLINE konfrontiert sie mit demografischen Daten und belegt: Die Pille war nicht schuld am Knick, weder in Deutschland noch anderswo.

Unter den demografischen Mythen hält sich der "Pillenknick" am hartnäckigsten. Wahrscheinlich, weil er mit Sex zu tun hat. Besser noch: Mit der sexuellen Befreiung der Achtundsechziger. Trotzdem ist die Idee ziemlich haltlos.

Die Theorie geht so: Als mitten im Nachkriegs-Babyboom die Antibabypille auf den Markt kam, brachen deswegen die Geburtenraten ein (Details zur Berechnung im Kasten "Was ist die Geburtenrate?"). Denn die Frauen konnten auf einmal selbst bestimmen, wie viele Kinder sie zeugen wollten. Und so viele wie zuvor wollten sie eigentlich gar nicht. Stattdessen wählten sie jetzt Sex ohne Zeugung.

Die Geschichte hat einen wahren Kern: Es gab einen Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg (in Deutschland von etwa 1956 bis 1969) und mittendrin wurde die Pille eingeführt (in Deutschland am 1. Juni 1961). Tatsächlich sanken die Geburtenraten, nachdem die Pille auf dem Markt war. Aber gibt es deswegen einen kausalen Zusammenhang?

Dagegen spricht zunächst einmal das merkwürdige Timing. Denn einen Babyboom inklusive "Knick" der Geburtenraten gab es in fast allen entwickelten Ländern. Aber nicht immer gleichzeitig.

Deutschland und die USA im Vergleich: Knick mit Verzögerung

Als Amerika 1960 die Pille bekam, war der Gipfel des Babybooms schon überschritten. Die Kinderzahl pro Frau erreichte ihren Höchststand nämlich schon 1957. Die Trendwende muss also andere Gründe gehabt haben als das neue Verhütungsmittel.

In Westdeutschland war es andersherum: Obwohl es die Pille seit 1961 gab, stieg die Geburtenrate noch fünf Jahre lang weiter (ihren Höchststand erreichte sie 1966 mit 2,54 Kindern pro Frau). Der Zenit des Babybooms lag auf beiden Seiten des Atlantiks also um ein Jahrzehnt auseinander, obwohl die Antibabypille fast gleichzeitig auf den Markt kam.

Als die Geburtenraten in den Sechzigern und Siebzigern purzelten, war die Pille außerdem gar nicht weit genug verbreitet, um einen so großen Effekt zu haben.

USA: Einfluss der Pille zu gering

Entwicklung der Geburtenrate in den USA sowie Nutzung der Pille und anderer moderner Verhütungsmittel

Entwicklung der Geburtenrate in den USA sowie Nutzung der Pille und anderer moderner Verhütungsmittel

In den USA ist das gut dokumentiert: Im Jahr 1965 schluckten 19 Prozent der "sexuell aktiven" Frauen das Verhütungsmittel, bis 1975 kletterte die Quote zwar auf ein Hoch von 27 Prozent, fiel danach aber gleich wieder. Heute verhütet nicht mal ein Fünftel der Amerikanerinnen mit der Pille. Das große Minus bei der Geburtenrate kann das nicht erklären: Von der Markteinführung der Pille bis Mitte der Siebziger sank sie dauerhaft um die Hälfte.

In Deutschland dürfte der Einfluss der Pille noch geringer gewesen sein. Zwar gibt es keine Verbreitungsdaten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Aber die Familienberater von pro familia haben historische Stimmen aus dieser Zeit zusammengetragen. Sie beschreiben, wie schwierig es in den vermeintlich so wilden 68ern war, an die Pille zu kommen:

  • Viele Ärzte kannten sich demnach kaum mit moderner Verhütung aus.
  • Anfangs verschrieben sie die Pille nur verheirateten Frauen, die ohnehin schon Kinder hatten und über 30 waren.
  • Generell empfahlen sie Abstinenz, wenn keine Kinder gewünscht waren.
  • Auch unter vielen Frauen galt die Pille noch lange als Todsünde, ähnlich wie eine Abtreibung.

Japan: Knick ganz ohne Pille

Dass der Geburtenrückgang nach dem Babyboom ganz andere Gründe haben könnte als die Pille, sieht man nirgendwo besser als in Japan: Dort knickten die Geburtenraten schon in den Fünfzigern massiv ein. Und das ganz ohne Pille.

Entwicklung der Geburtenrate in Japan sowie Nutzung der Pille und anderer moderner Verhütungsmittel

Entwicklung der Geburtenrate in Japan sowie Nutzung der Pille und anderer moderner Verhütungsmittel

Die Pille war und ist dort immer schon ein Tabu. Nur etwa ein Prozent der Japanerinnen nehmen sie. Wesentlich radikaler als Verhütungsmittel beeinflusste dort übrigens der Aberglaube die Geburtenrate: Weil Frauen, die in den "Feuerpferd-Jahren" des chinesischen Kalenders geboren werden, angeblich Unheil über die Familie bringen, kam es im Feuerpferd-Jahr 1966 zu deutlich mehr Abtreibungen und Kindstötungen.

In Japan sieht es so aus, als seien der Sinkflug der Geburtenraten und der Anstieg der Kondomnutzung zusammengefallen. Waren es also die modernen Verhütungsmittel insgesamt, deren Siegeszug in den Schlafzimmern dem Babyboom den Garaus machte? Plausibel ist es eher andersherum: Moderne Verhütungsmittel wurden populär, weil die Menschen weniger Kinder wollten. Und zwar nicht erst seit der 68er-Generation.

Deutschland: Geburtenraten schrumpfen seit 150 Jahren

In Deutschland sinken die Geburtenraten übrigens schon deutlich länger: Der Trend ist 150 Jahre alt und hat seine Ursachen sogar noch früher, in der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seitdem ist eine Umwälzung der Wirtschafts- und Lebensweise, der Medizin, der Arbeitswelt und vor allem der Geschlechterrollen in Gang, die zunächst die Sterblichkeiten und dann die Kinderzahlen pro Frau sinken ließ.

Die historische Entwicklung der Geburtenrate in Deutschland

Die historische Entwicklung der Geburtenrate in Deutschland

"Demografischer Übergang" nennen die Bevölkerungsforscher dieses komplexe, multikausale Phänomen, und sie wissen, dass es bisher in allen entwickelten Ländern passiert ist. Ausnahmen vom Abwärtstrend der Kinderzahlen pro Frau hat es auch schon nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise gegeben: Die Geburtenraten stiegen kurzfristig, fielen dann aber wieder (ganz ohne Pille).

Viele Wissenschaftler glauben zwar, dass sich der Nachkriegs-Babyboom vom langfristigen Jahrhundert-Übergang unterscheidet. Sie streiten bis heute darüber, wieso er kam und verging. Die Theorie vom Pillenknick spielt dabei aber nur eine kleine Rolle: Man kann sie belächeln.

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