Epilepsie-Medikamente Ärzte halten Suizidrisiko-Warnung für gefährlich

Nervenzellen (Illustration): Bei epileptischen Anfällen spielen sie verrückt
Foto: CorbisMedikamente mit lebensgefährlichen Nebenwirkungen? Die US-Gesundheitsbehörde FDA geht seit Längerem einem solchen Verdacht nach: Epilepsie-Patienten, die bestimmte Medikamente gegen ihre Krankheit nehmen, leiden möglicherweise unter einem erhöhten Selbstmordrisiko.
2008 werteten Mitarbeiter der FDA deshalb insgesamt knapp 200 klinische Studien aus, die ein solches Risiko belegen wollen. Zwar konnten sie keinen kausalen Zusammenhang zwischen Medikament und Suizidgefahr finden. Dennoch gaben sie an, dass Patienten, die bestimmte Anti-Epileptika einnehmen, häufiger Selbstmordgedanken haben. Seither fordert die FDA Ärzte auf, ihre Patienten vor den möglichen Risiken von Epilepsiemedikamenten zu warnen.
Jetzt haben Forscher um Frank Andersohn von der Charité in Berlin im Fachblatt "Neurology" eine Studie veröffentlicht, die eine gewisse Entwarnung gibt: Offenbar ist nur ein Teil der Medikamente, die derzeit auf dem Markt erhältlich sind, mit einem erhöhten Suizidrisiko behaftet.
Die neueren Medikamente gegen Epilepsie lassen sich zwei Gruppen zuordnen:
- Mittel, die mit einem höheren Depressionsrisiko in Verbindung gebracht werden. Dazu zählen beispielsweise die Wirkstoffe Levetiracetam, Topiramat oder Vigabatrin.
- Mittel mit keinem bis geringem Depressionsrisiko. Dazu gehören Lamotrigin, Gabapentin, Carbamazepin oder Phenytoin.
Andersohns Studie zeigt, dass nur die Medikamente, die mit einer höheren Depressionswahrscheinlichkeit einhergehen, auch das Selbstmordrisiko erhöhen. Eine solche Unterscheidung hatte die US-Behörde seinerzeit jedoch nicht vorgenommen. Die Untersuchungen der FDA waren 2005 aufgenommen worden und umfassten insgesamt elf bekannte Medikamente, die gegen Epilepsie eingesetzt werden.
Doch warum werden die depressionsauslösenden Medikamente überhaupt verschrieben? Die medikamentöse Einstellung eines Epilepsie-Patienten sei kompliziert, sagt Andersohn im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Zum einen gebe es Patienten, die gar nicht oder nach einer gewissen Zeit nicht mehr auf bestimmte Substanzen ansprächen. Um solchen Patienten eine Alternative zu bieten, sei es wichtig, über ein möglichst großes Repertoire an Medikamenten zu verfügen.
Zum anderen hätten die Medikamente mit dem geringeren Depressionsrisiko andere wesentliche Nachteile. Sie könnten Nebenwirkungen haben, die die Patienten in ihrem Alltag stark einschränken, sagt Andersohn. Extreme Müdigkeit sei nur ein Beispiel. Zudem hätten einige dieser Mittel in Kombination mit anderen unerwünschte Effekte. "So haben im Endeffekt alle Epilepsie-Medikamente ihre Vor- und Nachteile, vor allem aber ihre Daseinsberechtigung."
In ihrer Studie werteten die Charité-Forscher die Daten von insgesamt 44.300 Briten mit Epilepsie aus, die zwischen 1989 und 2005 mindestens ein Rezept für ein Medikament erhalten hatten. Durchschnittlich beobachteten sie die Studienteilnehmer über einen Zeitraum von fünfeinhalb Jahren. 453 Patienten hatten sich in dieser Zeit selbst Verletzungen zugefügt oder versucht, Selbstmord zu begehen. 78 waren bei dem Versuch oder innerhalb der darauf folgenden vier Wochen gestorben. Die Wissenschaftler verglichen jene 453 Patienten mit einer Auswahl von 9000 Probanden aus der großen Gruppe, in der sich die Teilnehmer nicht selbst verletzt hatten.
Mediziner warnen davor, Medikamente eigenmächtig abzusetzen
Das Ergebnis: Bei Patienten, die unter dem Einfluss von Medikamenten mit höherem Depressionsrisiko standen, war die Wahrscheinlichkeit, sich selbst zu verletzten oder umzubringen, dreimal höher als bei Patienten, die keine Medikamente zu sich nahmen. In Bezug auf die Medikamente mit niedriger Depressionsgefahr konnten Andersohn und sein Team keine erhöhte Suizidgefahr feststellen.
Auch die Untersuchung der FDA von 2008 hatte ergeben, dass Suizidgedanken oder -absichten nur sehr selten nachgewiesen werden konnten. Die Behörde hatte Studien mit insgesamt rund 28.000 Teilnehmern ausgewertet. Das Ergebnis: Bei Patienten, die mit den Medikamenten gegen Anfälle behandelt wurden, kamen Suizidgedanken und -absichten doppelt so oft vor (0,43 Prozent) wie bei der Vergleichsgruppe, die Placebos bekommen hatte (0,22 Prozent).
In allen Untersuchungen wurden aber lediglich vier Selbstmorde festgestellt. Sie betrafen die Gruppe, die mit den Medikamenten behandelt worden waren. Dennoch folgerte die FDA: Auf 1000 behandelte Patienten kamen umgerechnet zwei Personen mehr mit Selbstmordgedanken als in der Placebo-Gruppe. Die Behörde forderte deshalb eine Ergänzung der Beipackzettel, in der das Risiko erwähnt sein sollte.
Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hält dies für erforderlich. Nach Beratungen in Fachgremien in der EU hatte das BfArM bereits im Jahr 2008 angeordnet, dass entsprechende Hinweise in die Produktinformationen von Antiepileptika aufgenommen werden. Inzwischen sind die Beipackzettel der meisten in Deutschland erhältlichen Präparate geändert.
Doch warnen vor derartigen Maßnahmen. Zeitgleich zur Studie der Charité-Forscher ist im Fachmagazin "Neurology" ein Begleitartikel erschienen, in dem Josemir Sander vom University College London und Marco Mula vom Universitätskrankenhaus im italienischen Maggiore eine Befürchtung äußern: Das Risiko dadurch, dass Epileptiker aus Angst vor Suizidgedanken ihre Medikamente nicht nehmen oder zu früh absetzen könnten, sei größer als das Selbstmordrisiko selbst.
Auch Andersohn warnt ausdrücklich vor einer solchen Reaktion: Patienten sollten wegen der Ergebnisse dieser Studie auf keinen Fall abrupt ihre Medikamente absetzen oder auf andere umsteigen. Es sei wichtig, sich zunächst mit dem Arzt über eine Änderung zu unterhalten. Ein eigenmächtiges Eingreifen in die Medikation könne das Risiko für einen epileptischen Anfall deutlich erhöhen.