Erbguttest Forscher entziffern Embryo-Genom aus Blut und Speichel der Eltern

Diese Erkenntnis könnte die Medizin verändern - und die Gesellschaft: Erstmals haben Forscher das Genom eines Embryos aus dem Blut der Mutter und dem Speichel des Vaters entschlüsselt, ohne Eingriffe in den Mutterleib. Tests auf Erbkrankheiten werden radikal vereinfacht. Doch das Verfahren wirft ethische Fragen auf.
Embryo im Mutterleib: Die Puzzleteile zusammenfügen

Embryo im Mutterleib: Die Puzzleteile zusammenfügen

Foto: dapd

Seattle/Washington - Die biologischen Grundlagen sind schon seit 1997 bekannt: Damals entdeckte der Pathologe Dennis Lo von der Chinese University of Hongkong im Blut von Schwangeren massenhaft Erbmoleküle des Embryos. Nur Schnipsel zwar, zerstückelt in unzählige Fragmente, aber immerhin genug, dass Forscher beginnen konnten, die Puzzleteile zusammenzufügen.

US-Forscher der University of Washington (Seattle) haben nun erstmalig das komplette Genom eines ungeborenen Kindes allein mit DNA-Analysen mütterlichen Bluts und väterlichen Speichels entziffert. Sie werten dies als Schritt zu einem Test auf Tausende von Krankheiten, die durch Veränderung eines einzelnen Gens verursacht werden - ohne das Kind durch invasive Methoden wie eine Fruchtwasseruntersuchung im Mutterleib zu gefährden. Ihre Ergebnisse sind im Fachjournal "Science Translational Medicine"  veröffentlicht.

Bisher können Störungen im Erbgut eines Ungeborenen nur durch eine Fruchtwasseruntersuchung oder eine Gewebeprobe aus der Plazenta sicher festgestellt werden. Rund 30.000 waren es in Deutschland im Jahr 2009. Die sogenannte Amniozentese, bei der eine Zellentnahme aus dem Fruchtwasser durch die Bauchdecke der Schwangeren erfolgt, führt in mindestens einem von 200 Fällen zur Fehlgeburt. Einige hundert gesunde Embryos dürften jährlich auf diesem Weg versterben. Experten suchen deshalb bereits seit längerem nach einer schonenden, nicht-invasiven Diagnosemöglichkeit.

"Die ungefährliche Diagnose des embryonalen Genoms wird einen deutlichen Einfluss auf den Umgang mit der Früherkennung in der Schwangerschaft haben", sagt Georg Marckmann, Professor für Medizinethik an der Ludwig-Maximillians-Universität in München. "Wachsende Diagnosemöglichkeiten machen es nicht einfacher für Eltern. Sie werden sich immer öfter fragen, ob ihr Kind auch wirklich gesund ist, auch wenn sie vielleicht nicht jede Untersuchungen gemacht haben."

Jetzt braucht es nur wenige Milliliter des Bluts einer Schwangeren, um mittels diagnostischer Analysen Erbgutschäden des ungeborenen Kindes zu ermitteln. Ein erster Test, der die Störung am Chromosom 21 nachweist, die zu einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) führt, ist in den USA bereits auf dem Markt. In Deutschland wird der "PraenaTest" voraussichtlich ab Ende Juni angeboten. Doch diese Diagnosemethode scheint nur der Vorbote zu sein für eine noch umfassendere Durchleuchtung des menschlichen Embryos. Schon jetzt lassen sich weitere Erbschäden entdecken.

Kritik an Schwangerschaft auf Vorbehalt

Umso wichtiger sei es, dass Eltern eine kompetente genetische Beratung erhalten, sagt Marckmann. Das Mehr an Wissen über das embryonale Erbgut verpflichtet. Kritiker befürchten, dass mit der unkomplizierten Anwendung eines Bluttests auch die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch leichter fällt als bisher. Das könnte die "Schwangerschaft unter Vorbehalt" zur Regel machen. Der einfache Bluttest könnte schließlich so früh zum Einsatz kommen, dass eine Frau noch nicht als werdende Mutter zu erkennen ist.

Normalerweise besitzt jeder Mensch ein Genom mit 46 Chromosomen. Während der Schwangerschaft kann es bei Ungeborenen allerdings zu Mutationen kommen, die diese Zahl verändern und zu gravierenden Krankheiten führen können. Insgesamt gäbe es laut den Gendiagnostikern von der University of Washington rund 3000 Störungen, die auf der Veränderung eines Gens beruhen.

Einzeln genommen sind sie selten, insgesamt aber betreffen sie etwa ein Prozent aller Neugeborenen, sagen die Studienautoren Jay Shendure und Jacob Kitzman. Diese führten zu Erkrankungen wie Mukoviszidose und Chorea Huntington oder zu einer höheren Anfälligkeit für Krebs.

Wissen aus nur einer Blut- und Speichelprobe

Um diese Mutationen aufspüren zu können, setzen die Forscher auf die komplette Genanalyse des Embryos. In ihren Untersuchungen entnahmen Shendure und Kitzman einer werdenden Mutter um die 18./19. Schwangerschaftswoche herum Blut und bekamen vom Vater eine Speichelprobe. Im mütterlichen Blut fahndeten sie nach freien DNA-Stücken des Kindes. Mit Hilfe statistischer Methoden zogen Shendure und Kitzman dann Rückschlüsse auf das gesamte Erbgut des Fötus und verglichen ihre Ergebnisse später mit dem Genom des Neugeborenen, das sie anhand einer Blutprobe aus der Nabelschnur entzifferten.

Das Verfahren wiederholten sie bei einem weiteren Paar zu einem früheren Zeitpunkt der Schwangerschaft. Die Wissenschaftler analysierten zudem, welche genetischen Varianten von den Eltern auf das Kind übertragen wurden und welche sich durch spontane Mutationen entwickelt haben mussten. Den Angaben zufolge entdeckten sie 39 von 44 neu entstandenen Mutationen, als das Kind noch ein Fötus war.

Steigt die Zahl der Abtreibungen?

"Die Veröffentlichung ist der Beweis, dass es prinzipiell technisch möglich ist, sämtliche genetische Informationen eines Menschen schon vor der Geburt zu ermitteln, ohne das Kind anzutasten", sagte Wolfram Henn, Humangenetiker an der Universität des Saarlandes. "Und zwar inklusive verdeckter Anlagen, die erst in der übernächsten Generation zum potentiellen Auftreten von Erbkrankheiten führen können." Es müsse noch überprüft werden, ob der Test solide sei.

Die Autoren selbst räumen ein, dass die Methode noch verbessert werden müsse. Noch sei das Verfahren sehr aufwendig und teuer, aber man sei zuversichtlich, dass technische Fortschritte schon bald eine günstigere, einfachere Version des Tests ermöglichen.

Dies allerdings bringe auch neue ethische Herausforderungen mit sich. Etwa wenn eine schwerwiegende Erbkrankheit bei einem Ungeborenen diagnostiziert wird, müssen die Eltern entscheiden, ob sie das kranke Kind abtreiben oder nicht.

Es stellen sich Fragen, die bis in die Politik hineinreichen werden, glaubt Humangenetiker Henn. "Wer darf zu welchem Zeitpunkt welche genetischen Informationen erhalten - nicht nur über Krankheitsanlagen, die schon in der Kindheit bedeutsam sind, sondern auch über erst spät auftretende Krankheiten wie erblichen Darmkrebs oder sogar Eigenschaften ohne Krankheitswert, zum Beispiel Sportlichkeit?" Auf diese Dinge habe man noch keine ausreichenden Antworten.

Die schwierige Frage, wie werdende Eltern mit den neuen Diagnosemöglichkeiten umgehen sollen, kann allerdings sowieso kein Test beantworten. Derzeit erarbeitet der Deutsche Ethikrat  im Auftrag der Bundesregierung eine Stellungnahme zur Zukunft der genetischen Diagnostik.

mit Material von dpa/dapd
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