Erbgutanalyse Forscher entschlüsseln das Ehec-Geheimnis

Ehec-Bakterien: Erbgutvergleiche liefern Hinweis auf Evolution der Erreger
Foto: CDC/ Janice CarrMünster - Bakterien stecken voller Überraschungen - einige enden für den Menschen tödlich. Als Anfang Mai im Norden Deutschlands die ersten Ehec-Fälle auftauchten, ahnte niemand, dass die Infektionswelle zum weltweit bisher größten Ausbruch von Hus-Erkrankungen führen sollte: Mehr als 800 Betroffene kämpften mit der lebensbedrohlichen Komplikation der Nieren, mindestens 30 Hus-Kranke starben.
Wochenlang rätselten Bakteriologen, Infektiologen und Mediziner über diesen unheimlichen Erregerstamm. Was machte ihn so ungewöhnlich aggressiv? Wieso verliefen viele der Hus-Erkrankungen so anders, als man sie bisher kannte?
Die Bakterien, die die Experten zunächst in Ratlosigkeit versetzten, gehören zum Stamm der enterohämorrhagischen Escherichia coli (Ehec), ein Stamm, der für Mikrobiologen eigentlich ein alter Bekannter ist. Jährlich erkranken für gewöhnlich 60 Menschen in Deutschland an Hus, ausgelöst durch eine Ehec-Infektion. Diese Ehec-Welle aber war anders. Wenige Tage nachdem Mitarbeiter des Konsiliarlabors des Robert Koch-Instituts (RKI) am Universitätsklinikum Münster (UKM) mit der Analyse der Bakterien begonnen hatten, stand fest: In Deutschland wütete ein bis dahin extrem seltenes Ehec-Exemplar, Serotyp O104:H4.
Die Entstehungsgeschichte eines Bakterienstamms
Inzwischen ist die Infektionswelle überstanden, dem RKI wurde am 7. Juli letztmals ein O104:H4-Fall gemeldet. Für die UKM-Experten aber ging die Forschungsarbeit weiter, das Ergebnis präsentieren sie jetzt im Fachmagazin "PLoS One" . Es ist nach eigenen Angaben die bisher eingehendste Erbgutanalyse des Ausbruchsstamms - und diese liefert einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des besonders aggressiven Ehec-Erregers. Denn sie vergleicht diesen mit einem Erregerstamm der vor einigen Jahren aufgetaucht war.
Zuvor hatten auch Wissenschaftler am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) in Kollaboration mit einer chinesischen Firma das Genom sequenziert, ebenso wie Forscher um Rolf Daniel von der Universität in Göttingen, die zwei Isolate der deutschen Ehec-Epidemie untereinander verglichen und die Ergebnisse Ende Juni im Fachmagazin "Archives of Microbiology" veröffentlicht hatten.
Was die UKM-Wissenschaftler aber nun in ihrer Arbeit aufzeichnen, liest sich wie eine Art Familienstammbaum - an dessen Anfang jedoch ein bisher unbekannter Erreger steht. Wie Alexander Mellmann vom UKM erklärt, handelt es sich vermutlich um einen O104:H4-Vorläuferstamm. Ein Stamm, der ebenso wie der in Deutschland grassierende Erreger das gefährliche Shigatoxin produziert - ein tückisches Protein, welches grob gesagt die Eiweißproduktion in der Zelle unterbricht, so dass sie stirbt.
Doch erst die Evolution hat aus diesem unbekannten Vorläuferstamm einen derartig aggressiven Ehec-Keim entstehen lassen, der für den Tod Dutzender Patienten verantwortlich war. Es ist ein Bakterium, das verschiedene Eigenschaften naher verwandter Mikroben in sich vereint. Sie kommen dadurch zustande, dass die Bakterien im Laufe ihrer Evolution Gene für wichtige krankmachende Faktoren erworben haben. So fanden die Forscher etwa mehrere Antibiotika-Resistenzgene. Oder etwa ein Gen, das die Bakterien besonders säureresistent macht - eine wichtige Eigenschaft für die Erreger, um die Reise durch den menschlichen Magen zu überleben.
Wandelbare E.-coli-Bakterien
Dass E.-coli-Bakterien so wandelbar sind, verdanken sie einer besonderen Eigenschaft: Neben ihrem Bakterienchromosom, einem ringförmigen DNA-Molekül, auf dem der größte Teil der Erbinformation liegt, besitzen sie zusätzliches Erbgutmaterial in Form von sogenannten Plasmiden. Das sind kleinere ebenfalls ringförmige DNA-Moleküle, auf denen sich oft die Gene für krankmachende Faktoren befinden. Über eine Art primitiven Sex können Bakterien diese Plasmide untereinander austauschen. Mit der Zeit kann sich so ein Stamm entwickeln, der eine Genkombination in sich trägt, die ihn besonders pathogen macht.
Um der Evolution des Ehec-Ausbruchsstamms auf die Spur kommen zu können, haben die Münsteraner Wissenschaftler um Helge Karch vom UKM das Genom der Bakterien mit dem Erbgut einer Reihe anderer Verwandter verglichen. Darunter war auch jener Stamm, den Karchs Laborgruppe 2001 bei zwei Frauen in Köln isoliert hatten. Dessen Bakterienchromosom ist nahezu identisch mit dem aktuellen Ausbruchsstamm. Allerdings, so das Ergebnis des Karch-Teams, hat sich der neue Stamm seither einige neue genetische Elemente zugelegt.
"Diese Arbeit unterstreicht die große Bedeutung von Referenzstammsammlungen", sagt Karch. Seit 1996 hüten die Wissenschaftler in Münster eine vergleichsweise exklusive Sammlung von Bakterienstämmen, die Hus auslösen, Husec genannt. Auch für mögliche künftige Ehec-Ausbrüche, könnte sich diese Sammlung als besonders wertvoll erweisen.
Doch mit ihrer Arbeit in "PLoS One" ist den UKM-Forschern noch ein weiterer Durchbruch gelungen: Erstmals konnte mit Hilfe neuartiger Sequenziertechnologien das Bakterienerbgut des Ausbruchserregers noch im Verlauf der Infektionswelle untersucht werden. Die Experten sprechen von "Next generation sequencing" (NGS). "Dies ist die weltweit erste Demonstration der Anwendung von NGS im Rahmen eines Ausbruchsgeschehens nahezu in Echtzeit", sagt Dag Harmsen, der das Team zur Sequenzierung der Isolate in Münster leitete. "Das Verfahren wird neue Standards beim Handling solcher Ausbrüche setzen", sagt Harmsen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
NGS soll es Wissenschaftlern in Zukunft ermöglichen, Erregerstämme schon früh während eines Ausbruchs analysieren und charakterisieren zu können. Bisher war das den Wissenschaftlern kaum möglich. Meistens war eine Seuche schon längst abgeebbt, bis die Forscher den Erreger endlich genau identifiziert hatten. Zwar kann man anhand solcher Ergebnisse Rückschlüsse auf mögliche künftige Ausbrüche ziehen - für eine Reaktion auf das aktuelle Ausbruchsgeschehen kam die Sequenzanalyse bisher zu spät.
Gerade einmal 62 Stunden benötigten die Münsteraner, um das Ehec-Erbgut vollständig zu analysieren. Und: Das NGS wird immer schneller und kostengünstiger. Warum bestimmte Bakterien oder aber auch Viren so aggressiv sind, das könnten Mediziner dank der raschen Weiterentwicklung künftig schneller erfahren; Schnelltests, um die Epidemie zu überwachen, lassen sich rascher entwickeln. Und schließlich, so die Hoffnung der Forscher, könnten NGS-Methoden auch die Entwicklung von Medikamenten oder Impfungen beschleunigen.