EU-Jahresbericht Synthetische Drogen verdrängen Heroin

Heroinsüchtiger: Die Ära der Droge könnte bald zu Ende sein
Foto: STR/ REUTERSHamburg - Heroin ist seit rund 40 Jahren die gefährlichste illegale Droge in Europa. Keine andere hat mehr Leiden ausgelöst, keine mehr Menschen getötet. In den vergangenen zehn Jahren ist in der EU im Durchschnitt ein Mensch pro Stunde an einer Überdosis Opioide gestorben, in den meisten Fällen handelte es sich um Heroin. Doch das könnte bald der Vergangenheit angehören, wie aus dem neuen Bericht der EU-Drogenbeobachtungsstelle EBDD hervorgeht: Man stehe möglicherweise vor "einer neuen Ära, in der Heroin keine zentrale Rolle mehr für Europas Drogenproblem spielt", heißt es in dem Bericht , der am Donnerstag in Portugals Hauptstadt Lissabon vorgestellt wurde.
2010 haben sich demnach rund 46.000 Europäer erstmals wegen Heroinproblemen in Behandlung begeben - ein Rückgang von fast 25 Prozent gegenüber dem Höchstwert von 61.000, der 2007 erreicht wurde. Auch die Zahl der Toten durch den Missbrauch von Opioiden, also hauptsächlich Heroin, ist zwischen 2009 und 2010 von 7600 auf 7000 gefallen. Damit bestätigt sich ein Trend, der zuletzt auch in Deutschland sichtbar wurde: 2011 kamen hierzulande 986 Menschen durch den Konsum harter Drogen ums Leben - 20 Prozent weniger als 2010, als 1237 Tote erfasst worden waren.
EBDD-Direktor Wolfgang Götz nennt im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE zwei Gründe dafür. Der erste sei, dass die Heroin-User immer älter würden: "Es begeben sich immer weniger junge Menschen neu in Behandlung", so Götz. "Die Heroin-Klientel stirbt langsam aus." Der zweite Grund sei die "energische Polizeiarbeit" in Verbindung mit der Ausweitung von Therapien mit Heroin-Ersatzstoffen. So habe inzwischen jeder Zweite der rund 1,4 Millionen Heroin-Konsumenten in der EU Zugang zu Substitutionstherapien. "Das hilft, die Leute aus der Beschaffungskriminalität herauszuholen und sie medizinisch zu versorgen", so Götz.
Synthetische Drogen ersetzen etablierte Rauschmittel
Auch Kokain, Europas meistgenutztes illegales Stimulans, verliert laut EBDD weiterhin an Konsumenten und auch an seinem Ruf als Statusdroge. Doch der Rückgang der etablierten Rauschmittel sei keinesfalls ein Grund zur Entwarnung - denn die Nachfolger warten schon, und manche von ihnen sind furchterregend. In Estland und Finnland etwa haben synthetische Opioide große Teile des vor rund zehn Jahren kollabierten Heroin-Markts ersetzt, heißt es im EBDD-Bericht. So sei Fentanyl 2010 in Estland für drei Viertel aller therapierten Konsumenten die Hauptdroge.
"Fentanyl ist mindestens 100-mal so toxisch wie Heroin", sagt Götz. Der Stoff komme etwa in Schmerzpflastern vor. "Die Leute kochen diese Pflaster aus, oder sie wühlen sich durch die Mülltonnen von Krankenhäusern." Eine weitere klassische Heroin-Ersatzdroge sei Buprenophil. In Ländern wie Ungarn, Litauen, Irland und Slowenien wiederum weichen Süchtige, die kein Heroin mehr bekommen können, auf Cathinone, Benzodiazepine und Amphetamine aus.
Letztere bereiten inzwischen auch in Deutschland erhebliche Sorgen, sagt Götz. Methamphetamin, auch als Crystal Meth bekannt, sei in der EU bisher ein "Inselproblem" in Tschechien und der Slowakei gewesen. Inzwischen aber verbreite es sich auch in Skandinavien, Ungarn, Griechenland, Zypern - und auch in Bayern und Sachsen.
Angst vor Verbreitung von Crystal Meth
"Methamphetamin kann einen Menschen besonders schnell psychisch und körperlich zerstören", sagt Götz. "Und es hat enormes Gefahrenpotential, weil es leicht hergestellt werden und sich deshalb schnell verbreiten kann." Zwischen 2005 und 2010 sei die Menge des beschlagnahmten Methamphetamins in der EU von rund 100 auf 600 Kilogramm gestiegen, die Zahl der Sicherstellungen habe sich von 2200 auf rund 7300 mehr als verdreifacht.
Zugleich gehen die Hersteller synthetischer Drogen inzwischen mit bemerkenswerter Kreativität zu Werke. 2009 wurden der EBDD 24 neue Substanzen gemeldet, 2010 waren es 41, 2011 schon 49. Nur eine von diesen 49, Mephedron, wurde laut Götz bisher verboten. "Es entstehen permanent neue Stoffe, die zunächst legal verkauft werden können." 2012 hat die EBDD die Rekordzahl von 693 Online-Shops ermittelt, die solche "Legal Highs" verkaufen - im Januar 2010 seien es erst 170 gewesen. "Derzeit weiß niemand, wie man auf diese Geschwindigkeit reagieren soll", sagt Götz.
Das Problem sei, dass Drogen in der EU über nationale Gesetze reguliert werden. Manche Staaten konzentrieren sich dabei auf Einzelstoffe, andere auf chemische Gruppen. "Das geht in alle Richtungen", so Götz. Zudem würden neue Stoffe meist zusammen mit anderen Substanzen konsumiert. "Die Leute wissen oft gar nicht, was sie nehmen."