Evidenzbasierte Medizin Der gefährlich lückenhafte Medizin-TÜV

Die Wirkung von Medikamenten muss bewiesen sein, Ärzte sollen nur wissenschaftlich untermauerte Therapien verordnen - so weit die Theorie. Doch vermeintlich objektive Wirksamkeitsstudien sind vielfach verzerrt. Einblicke in eine Debatte, die uns alle angeht.
Von Susanne Rytina
Arzt im Krankenhaus: Welche Behandlung hilft wirklich?

Arzt im Krankenhaus: Welche Behandlung hilft wirklich?

Foto: DDP

Mit ein paar beherzten Hammerschlägen trieb der Arzt seinem Patienten eine 20 Zentimeter lange Nadel oberhalb des Augapfels in den Schädel. Dann stocherte er mit dem Operationsgerät im Gehirn umher, bis er meinte, genug "krankes" Nervengewebe zerstört zu haben. Diese äußerst krude "Eispickel-Methode", die zur Behandlung von manisch-depressiven und schizophrenen Psychosen eingesetzt wurde, brachte dem portugiesischen Neurologen Egas Moniz 1949 sogar den Medizin-Nobelpreis ein. Die so genannte Lobotomie setzte sich weltweit durch: Allein in den USA unterzogen Ärzte bis in die achtziger Jahre rund 40.000 Patienten dieser Prozedur; über 20 Jahre lang galt sie als wirksam. Doch sie zerstörte das Leben von Tausenden von Menschen. Viele verloren infolge des Eingriffs ihren Antrieb sowie ihre Fähigkeit, Handlungen vorauszuplanen. Ihre Gefühle "verflachten"; sie waren gleichgültig und apathisch.

In allen Bereichen der Medizin gab und gibt es solche therapeutischen Irrtümer. Ein weiteres tragisches Beispiel: Der Kinderarzt Benjamin Spock (1903 - 1998) empfahl in den fünfziger Jahren, Säuglinge nachts in die Bauchlage zu drehen, weil sie dann besser schliefen. Erst 1988 werteten Forscher alle dazu vorliegenden Studien systematisch aus. Bauchschläfer, so das Ergebnis, haben ein dreimal höheres Risiko für plötzlichen Kindstod als Babys in einer anderen Schlafposition. Heute schätzt man, dass der schlechte ärztliche Rat von einst hunderttausende Kinder das Leben gekostet hat.

Medizin auf Basis von überprüfbaren Beweisen

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

"Es gibt eine lange Liste von operativen Eingriffen und medikamentösen Therapien, die großen Schaden anrichten konnten, weil sie auf Grund von einzelnen Erfolgsmeldungen breit eingesetzt und zu spät wissenschaftlich überprüft wurden", berichtet der Biologe Klaus Koch vom (IQWiG) in Köln. Das 2004 gegründete Institut verfolgt den Auftrag, medizinischen Fehlbehandlungen in Deutschland vorzubeugen, aber auch Kosten und Nutzen konkurrierender Therapien zu vergleichen. Es bewertet auf Grundlage der existierenden wissenschaftlichen Studien, welche Behandlung bei einer bestimmten Erkrankung den größten Erfolg verspricht.

Dieses Prinzip firmiert heute unter dem Schlagwort "evidenzbasierte Medizin". Seit einigen Jahren gilt es in Europa und Nordamerika als höchster Standard in der Gesundheitsversorgung. Der Begriff geht zurück auf den englischen Ausdruck evidence-based medicine, zu Deutsch etwa: Medizin auf Basis von überprüfbaren Beweisen. Deren Vertreter fordern, dass Ärzte die Quellen, die sie ihren Entscheidungen zu Grunde legen, ständig überprüfen müssten. "Sie können sich nicht immer auf das verlassen, was sie einmal gelernt haben", so Klaus Koch.

Informationspflicht für Ärzte

Das klingt für viele Patienten wie eine Selbstverständlichkeit. Doch offenbar ist es das nicht. 2004 zeigte etwa eine Studie von Therapieforschern um Johannes Hamann von der Klinik für Psychiatrie der TU München, dass ältere Nervenärzte fünfmal häufiger als ihre jüngeren Kollegen Präparate verschreiben, die schon lange auf dem Markt sind. Ein enttäuschendes Ergebnis, resümierten die Autoren: "Das Medikament sollte zum Patienten passen und nicht zum Arzt."

Es dauere im Schnitt zehn Jahre, bis die Ergebnisse von Wirksamkeitsstudien endlich in der ärztlichen Praxis ankommen - das ist viel zu lang, kritisiert der Allgemein- und Notfallmediziner Nik Koneczny, der an der Universität Witten/Herdecke junge Ärzte ausbildet. Er ist Mitglied im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Ärzten, die Erkenntnisse aus der empirischen Forschung in die Praxen bringen wollen. Koneczny mahnt: Auch wenn den Ärzten oft die Zeit für Fortbildung fehle, entbinde sie das nicht von ihrer Pflicht, sich zu informieren.

Und das geht heute einfacher denn je: Neue, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse findet man längst kostenlos in medizinischen Datenbanken im Internet. Dort stehen Übersichtsarbeiten bereit, so genannte Reviews, die den Stand des Wissens zu den meisten gängigen Heilmethoden systematisch zusammenfassen, sie miteinander vergleichen sowie Nutzen gegen Risiken und Nebenwirkungen abwägen.

Die derzeit beste Bibliothek solcher Reviews bietet die Cochrane Collaboration - ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten, die umfangreiche Übersichtsarbeiten zu medizinischen Fragen erstellen, um damit ein solides Fundament für ärztliche Entscheidungen zu schaffen. Weltweit tragen die beteiligten Experten methodisch einwandfreie Studien zusammen und werten sie aus. Erweist sich dabei ein bestimmtes Medikament in neuen Studien als weniger wirksam als bisher angenommen, erfahren Ärzte das zum Beispiel durch die Fachzeitschrift "Arznei-Telegramm" oder in Form so genannter Cochrane Alerts, die im Internet abonnierbar sind.

Evidenzbasierte Medizin bedeutet freilich mehr, als sich auf den jüngsten Cochrane-Review zu stützen. Für die Suche nach der besten verfügbaren Evidenz existiert mittlerweile eine ausgefeilte Systematik: Liegen keine Metaanalysen über randomisierte kontrollierte Studien vor (siehe Glossar links), sollen wissenschaftliche Erkenntnisse mit dem jeweils nächstbesten Evidenzgrad den Ausschlag geben. Diese reichen über eine erfahrungsbasierte Expertenmeinung bis hin zu nichtrandomisierten Studien.

Irrtümer ausgeräumt

In München und Freiburg widmen sich zwei deutsche Cochrane-Gruppen dem weiten Feld der psychischen Störungen. Stefan Leucht von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die Arbeitsgruppe "Evidenzbasierte Psychiatrie " an der TU München. Gemeinsam mit Kollegen der internationalen Cochrane-Gruppe "Schizophrenie" hat er bereits einige Irrtümer über diese psychische Erkrankung ausgeräumt. Beispiel: Psychotische Patienten, die auch unter depressiven Symptomen leiden, bekommen von Nervenärzten oft Zusatzpräparate wie die Antiepileptika Carbamazepin oder Valproat verschrieben. Doch die vermuteten symptomlindernden Effekte sind gar nicht gesichert: "Die Evidenz ist sehr schwach", urteilte Leucht, nachdem seine Arbeitsgruppe 2007 und 2008 alle methodisch einwandfreien Arzneimittelstudien zu den beiden Präparaten zusammengefasst hatte. Im Einzelfall könne ein Antiepileptikum sogar mehr schaden als helfen, etwa weil es den Blutspiegel des primär nötigen Antipsychotikums absenken kann. Das sei vor allem bei Carbamazepin oft der Fall. Auch dafür, dass die Kombination von zwei oder mehr antipsychotischen Präparaten besser wirkt als ein Medikament allein, erbrachten zwei systematische Reviews aus dem Jahr 2009 keinen klaren Beleg.

Unter Psychiatern herrscht außerdem schon seit einigen Jahren ein Streit darüber, ob die neuen und teureren atypischen Neuroleptika wirksamer sind als die preisgünstigeren der ersten Generation. Laut verschiedenen systematischen Reviews, unter anderem von Leucht 2009, sind ältere Medikamente wie Haldol in ihrer antipsychotischen Wirkung durchaus mit modernen Präparaten wie Seroquel vergleichbar. Ein Vorteil der neuen Mittel: Anders als ihre Vorgänger rufen sie keine Bewegungsstörungen hervor. Allerdings verursachen einige Newcomer starke Gewichtszunahmen und erhöhen damit womöglich das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Leider dringen solche Erkenntnisse nicht immer zügig bis in die Praxen durch. Viele Ärzte wüssten zwar über neue Befunde Bescheid, verließen sich aber lieber auf ihre Erfahrung als darauf, was die Studienlage besagt, vermutet Leucht. Aus einzelnen Beobachtungen Beweiskraft abzuleiten, sei jedoch problematisch.

Suizidgefährdete oder Suchtpatienten aus den Stichproben ausgeschlossen

Inzwischen existieren nicht nur Studien zur Wirksamkeit von Präparaten oder Behandlungsmethoden, sondern auch umfassende Therapieleitlinien zu zahlreichen Erkrankungen. Die Empfehlungen etwa zur Behandlung von Schizophrenie oder Depressionen sollen Ärzten als Orientierung dienen. In Laiensprache übersetzt, geben sie zudem Patienten Anhaltspunkte dafür, ob ihr Arzt sie richtig behandelt. Die Empfehlungen betreffen unter anderem auch das Thema Rückfallprophylaxe: Betroffene, die aus der Psychiatrie entlassen werden, sollten zum Beispiel wissen, wie lange sie ihre Medikamente noch einnehmen sollen.

Doch offensichtlich gibt es auch hier ein Kommunikationsproblem, wie eine Studie der TU München 2005 ergab. Ein Team um den Psychiater Johannes Hamann stellte in einer Umfrage unter 50 Ärzten und 100 Patienten in bayerischen Bezirkskrankenhäusern fest: Die meisten Mediziner wussten zwar, wie lange ihre Patienten laut Leitlinien ihre Medikamente noch nehmen sollten. Doch sie hatten nur jedem dritten Patienten den betreffenden Zeitraum mitgeteilt! Mit rund jedem vierten Patienten hatten die Ärzte gar nicht darüber gesprochen, und mehr als jedem siebten empfahlen sie eine kürzere Dauer, als die Leitlinien vorsahen. Auf der Patientenseite kam selbst das kaum an. Nur jeder Zehnte kannte den richtigen Zeitraum, und rund 70 Prozent gaben an, dass ihr Arzt nie mit ihnen über Rückfallprophylaxe gesprochen hätte. "Vielleicht denken Psychiater, dass die Patienten ihre Empfehlung ohnehin ablehnen, oder sie wollen die Entscheidung den weiterbehandelnden Ärzten überlassen", vermutet Leucht.

Gerade unter psychisch Kranken liegt die Quote der Therapieabbrecher in klinischen Studien sehr hoch - bei bis zu 30 Prozent. Das ist eines von vielen methodischen Problemen, die die Aussagekraft von Arzneimittelstudien einschränken. Dazu zählt außerdem die Auswahl der Studienteilnehmer: Personengruppen wie Suizidgefährdete, Ältere oder Suchtpatienten werden aus ethischen Gründen aus den Stichproben ausgeschlossen, später aber in der klinischen Praxis mit Medikamenten behandelt, die nie an ähnlichen Fällen getestet wurden.

Was sind die besten Erfolgskriterien?

Beschränkte Aussagekraft besitzen auch Studien zum Beispiel zu Antidepressiva, deren Probanden in den USA per Zeitungsannonce gesucht wurden. "Viele derer, die an diesen Untersuchungen teilnehmen, sind nicht schwer depressiv, sondern können sich bloß keine Medikamente leisten", erklärt Leucht. "Das verzerrt die Ergebnisse."

Die Frage nach den besten Erfolgskriterien beantworten Experten darüber hinaus oft unterschiedlich. Viele Psychiater mahnen, dass es nicht nur darum gehen dürfe, Symptome zu reduzieren. Auch andere Kriterien seien bei der Auswahl des Medikaments zu beachten - zum Beispiel, wie gut die Patienten es vertragen und ob sich ihre Lebensqualität nach der Einnahme verbessere. Verschiedene Patienten können recht unterschiedlich auf denselben Wirkstoff reagieren; manche sprechen sogar überhaupt nicht darauf an.

Deshalb könne die wissenschaftliche Befundlage immer nur "die ärztliche Entscheidung unterstützen, nie aber die ärztliche Expertise ersetzen ", so die Medizinerin Gunver Kienle vom Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie in Freiburg. Gemeinsam mit Kollegen schrieb sie 2008 im "Ärzteblatt", sie schätze evidenzbasierte Medizin als Mittel, "Übersicht und Transparenz in den täglich wachsenden Datendschungel zu bringen". Allerdings fürchte sie, dass evidenzbasierte Medizin "eine quasigesetzliche Verbindlichkeit " entwickle. Auch wenn zum Beispiel Leitlinien keine juristisch bindenden Anweisungen seien, wären Mediziner in einem etwaigen Rechtsstreit angreifbar, sofern sie davon abwichen. Selbst wenn sie dafür gute Gründe hätten, wären sie nur dann auf der sicheren Seite, wenn sie sich grundsätzlich an den Leitlinien orientierten. Diese Form einer vorschriftsgemäßen, evidenzbasierten Medizin stoße inzwischen bei vielen Ärzten auf Ablehnung.

Pharmaindustrie

Kienle verweist noch auf ein weiteres Problem: Randomisierte kontrollierte Studien sind aufwändig und kosten häufig mehrere Millionen Euro - deshalb würden sie zu 80 Prozent von der gesponsert. Doch deren kommerzielle Motive bergen vor allem zwei Gefahren, wie einige Reviews in den vergangenen Jahren bestätigten: Erstens testen Pharmaunternehmen vorzugsweise Arzneimittel, an denen sie selbst verdienen können. Nichtpharmakologische und billige Therapien sowie Therapien für finanziell weniger attraktive Patientengruppen seien so im Rennen um Wirksamkeitsnachweise benachteiligt, so Kienle.

"Viele Erfolg versprechende Therapien werden nur schlecht oder nie überprüft." Als Beispiel nennt Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte vom Bundesverband der Verbraucherzentralen, das therapeutische Reiten für autistische Kinder. Die "Hippotherapie" werde auf Grund fehlender empirischer Belege nicht von den Krankenkassen bezahlt, sei aber laut Expertenmeinung wirksam. Wissenschaftler und Patientenorganisationen auf der ganzen Welt fordern deshalb ein eigenes Budget für freie Forschung, unabhängig von kommerziellen Interessen. In anderen Ländern gibt es so etwas: In Italien etwa muss die Pharmaindustrie rund zehn Prozent ihres Werbeetats für Forschungsprojekte abführen, an denen sie selbst kein Interesse hat. In den USA stellt die Gesundheitsbehörde National Institutes of Health inzwischen ebenfalls ein eigenes Budget für unabhängige Studien bereit.

Probleme pharmagesponserter Forschung

Das zweite Problem pharmagesponserter Forschung illustriert ein Review von Leucht und seiner Arbeitsgruppe für evidenzbasierte Psychiatrie. 2006 trugen die Experten 42 Studien zusammen, welche die Wirksamkeit jeweils eines Neuroleptikums mit der eines anderen verglichen. 33 davon hatten Pharmaunternehmen finanziert. Das wenig überraschende Ergebnis: Das Präparat des Sponsors schnitt in neun von zehn Fällen besser ab als das Vergleichspräparat. Die Autoren ordneten die Präparate entsprechend ihrem Abschneiden in den Einzelvergleichen zu einer absurden Rangfolge, die der Studie ihren Namen gab: "Warum Olanzapin besser ist als Risperidon, Risperidon besser ist als Quetiapin und Quetiapin wiederum besser als Olanzapin."

Derlei Probleme gibt es natürlich nicht nur bei Medikamenten gegen psychische Störungen, wie der kanadische Mediziner Joel Lexchin von der York University in Toronto 2003 in einer Metaanalyse zeigte. Er untersuchte neben Neuroleptika und Antidepressiva auch Medikamente gegen Arthritis und Thrombosen - insgesamt 30 Studien. Demnach gelangten die von der Pharmaindustrie bezahlten Tests dreimal häufiger zu wunschgemäßen Ergebnissen als solche mit anderen Geldgebern. Publizierte Forschungsergebnisse seien systematisch im Sinne der forschenden Pharmaunternehmen verzerrt, schlussfolgert nicht nur Lexchin. Viele unabhängige Reviews kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft bestätigte 2009, dass Studien von Herstellerfirmen häufig ein für diese günstiges Resultat erzielten; da genüge es schon, wenn sich ein Autor in einem wirtschaftlichen Interessenkonflikt befände, weil er von dem betreffenden Sponsor für Vorträge oder Gutachten bezahlt würde. Die daraus entstandene Verzerrung dürfte beträchtlich sein, denn über Jahrzehnte verschwanden Studien unveröffentlicht in den Schubladen, wenn sie nicht die erhofften Resultate brachten. Vor rund zehn Jahren hat die US-Gesundheitsbehörde eine Lösung für dieses Problem angeboten, die sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat: Medizinische Studien müssen nun frühzeitig mit ihren Zielkriterien im Register der Nationalen Gesundheitsinstitute registriert werden, ansonsten lehnen führende Fachmagazine die Publikation der Ergebnisse ab. Mehr noch: Auch die Ergebnisse dieser Studien müssen inzwischen im Internet veröffentlicht werden.

Unerwünschte Ergebnisse verschwinden im Archiv

In der Folge flogen selektive Publikationspraktiken zahlreicher Pharmafirmen auf. Einige Überblicksstudien aus den vergangenen Jahren nähren so auch Zweifel an der Wirksamkeit von neuen Antidepressiva. Der Psychiater Erick H. Turner von der Oregon Health & Science University in Portland sichtete Wirksamkeitsbelege für alle antidepressiven Medikamente, die zwischen 1987 und 2004 zugelassen worden waren. Die Hälfte der 74 Studien hatte die US-Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) als positive Belege eingestuft; von ihnen wurden alle bis auf eine publiziert. Von den Negativbelegen verschwanden dagegen 22 unveröffentlicht in den Archiven. So schien es, als hätten sich die neuen Antidepressiva in 94 Prozent der Studien bewährt. Erst ein Blick in die FDA-Daten brachte ans Licht, dass deren Nutzen tatsächlich nur von rund jeder zweiten Studie untermauert wurde.

In Deutschland sollen Arzneimittelstudien künftig ebenfalls registriert werden. Das Bundesforschungsministerium fördert den Aufbau eines deutsch- und englischsprachigen Registers am Universitätsklinikum Freiburg, doch noch ist die Registrierung freiwillig, und Ergebnisse werden bislang nicht zwangsläufig publiziert. Auch Kliniken müssen inzwischen ihre Leistungsbilanz im Internet publizieren. Niedergelassene Mediziner hingegen unterliegen nicht dieser Art der Qualitätskontrolle.

"Gar nichts wissen wir über seine Behandlungsqualität."

Gesundheitsexperte Etgeton vom Bundesverband der Verbraucher kritisiert: "Wir können im Internet nicht einsehen, zu welchem Thema sich ein Arzt fortgebildet hat. Wir wissen in der Regel auch nichts über seine Schwerpunkte. Gar nichts wissen wir über seine Behandlungsqualität." Patientenorganisationen fordern deshalb, dass Ärzte mehr Informationen über ihre Qualifikationen preisgeben.

Immerhin können Betroffene heute selbst im Internet recherchieren, welche Behandlung die beste ist. Im Vorteil sind Menschen, die des Englischen mächtig sind, denn bisher wurden nur knapp 700 laienverständliche Zusammenfassungen der derzeit rund 3000 Übersichtsarbeiten von Cochrane-Gruppen ins Deutsche übersetzt. Da längst nicht jeder medizinische Datenbanken durchforsten und im englischen Fachjargon abgefasste Zusammenfassungen ("Abstracts") lesen kann oder möchte, bietet auch das eingangs erwähnte deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen auf seiner Webseite Informationen an.

In den USA konsultieren Umfragen zufolge bereits zwei Drittel aller Menschen mit Internetzugang zu diagnostischen oder therapeutischen Fragen lieber das Internet als ihre Hausärzte. Diese reagieren mitunter irritiert oder genervt, wenn Kranke ihre Diagnosen und Therapievorstellungen gleich selbst schildern. Doch einen guten Arzt sollte das nicht schrecken, erklärt Koneczny vom Deutschen Netzwerk für evidenzbasierte Medizin. "Er macht seinen Patienten entweder plausibel, dass sie auf unseriöse Webseiten hereingefallen sind, oder er bestätigt, dass sie gute Informationen gesammelt haben."

Das erfordert aber die Bereitschaft seitens der Mediziner, ihre Patienten ernst zu nehmen, sie an Entscheidungen zu beteiligen und ihnen zu erklären, warum diese und nicht jene Therapie geeignet ist. Ein guter Arzt sollte dem Patienten den Nutzen einer Behandlung plausibel machen, aber auch auf den möglichen Schaden hinweisen - und zwar stets auf der Grundlage der bestmöglichen Evidenz.

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