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Artikel 53 / 79

Hirnforschung »Wir stehen am Beginn einer neuen Ära«

Der Neurowissenschaftler Emmanuel Mignot hat die Bedeutung der Schlaf-Wach-Zentrale im Gehirn erforscht – und damit womöglich die Schlafmedizin revolutioniert. Hier spricht er über den Sinn der Träume, Schlafmangel als Trennungsgrund und seinen schlummersüchtigen Chihuahua.
aus DER SPIEGEL 20/2023
Arzt Mignot, Hund Watson: »Wenn jemand einen Witz erzählt, verlieren manche Narkoleptiker bei der Pointe ihren Muskeltonus«

Arzt Mignot, Hund Watson: »Wenn jemand einen Witz erzählt, verlieren manche Narkoleptiker bei der Pointe ihren Muskeltonus«

Foto: Lenny Gonzalez / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Professor Mignot, der Schlaf ist eines der großen ungelösten Rätsel der Biologie. Warum müssen wir ein Drittel unseres Lebens bewusstlos verbringen?

Mignot: Schlaf ist dazu da, wieder aufzuladen, was tagsüber verbraucht wurde. In der Nacht, wenn wir ohnehin kaum sehen können, ruhen wir uns aus. Es ergibt Sinn, dass dann auch der Energiebedarf sinkt, der Stoffwechsel herunterfährt. So kann der Körper sich regenerieren.

SPIEGEL: Wir schlafen, um Kalorien zu sparen?

Mignot: Ja, wir verbrennen im Schlaf weniger Kalorien. Nur nicht im sogenannten REM-Schlaf…

SPIEGEL: …einer traumerfüllten Schlafphase, benannt nach dem charakteristischen Zucken der Augäpfel, »Rapid Eye Movement«.

Aus: DER SPIEGEL 20/2023

In Putins Fleischwolf

In der Schlacht um Bachmut hat Söldnerführer Jewgenij Prigoschin Tausende Männer seiner Wagner-Truppe in den Tod geschickt. Wer ist dieser Mann, der sich in Putins Russland unflätige Kritik an den Herrschenden erlaubt? Und wie wurden seine weltweit operierenden Militärunternehmen so bedeutend?

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Mignot: Genau, währenddessen ist der Rest des Körpers gelähmt. In dieser Phase verbraucht das Gehirn sogar mehr Kalorien.

SPIEGEL: Das spricht gegen Ihre These vom Schlaf zur Energieregulation.

Mignot: Nicht unbedingt. Ich glaube, dass der REM-Schlaf sich in der Evolution aus einer Vorläuferphase entwickelt hat. In diesem ursprünglicheren Schlaf war der Körper auch gelähmt, sodass er zur Ruhe kommen konnte. Mit der Evolution der Hirnrinde – und damit unserer höchsten kognitiven Funktionen – veränderte sich der REM-Schlaf. Der Körper blieb gelähmt, aber die Hirnrinde wurde in Zufallsmustern angeregt, vielleicht, um uns kreativer zu machen. Und dann entwickelte sich der non-REM-Schlaf, damit auch die Hirnrinde sich ausruhen kann. Aber um das beweisen zu können, müssten wir genau wissen, was im Hirn auf zellulärer und molekularer Ebene bei verschiedenen Tierarten in den verschiedenen Phasen und über die Zeit passiert.

SPIEGEL: Sie wurden auch deshalb Schlafforscher, weil Sie den Auslöser der Narkolepsie suchen wollten. Dachten Sie, dass diese Krankheit helfen kann, das Rätsel Schlaf zu verstehen?

Mignot: Es gab drei Gründe, mich der Narkolepsie zuzuwenden. Zum einen mag ich es als Forscher, Fragen zu stellen, noch mehr aber mag ich es, Antworten darauf zu finden. Und die Narkolepsie schien mir in diesem Sinne überschaubarer als die gigantische Frage nach der Funktion des Schlafs. Zum Zweiten erhoffte ich mir dabei neue Erkenntnisse über den Schlaf als solchen. Und schließlich gab es Patienten, die litten, und niemand konnte ihnen helfen.

SPIEGEL: Wie geht es Narkoleptikern?

Mignot: Sie sind dauerhaft müde, und erleben dauernd Situationen, in denen sie halb wach sind und halb träumen. Sie nehmen dadurch zu. Ihre Träume sind oft so lebendig, dass sie nach dem Aufwachen überzeugt sind, dass wirklich gerade, sagen wir: ein Einbrecher die Glastür zerschmettert, ins Haus gekommen und sie bestohlen hat. Und dann gibt es dieses sehr seltsame Symptom, das nicht alle von ihnen haben: Wenn sie sich freuen oder wenn jemand einen Witz erzählt, verlieren sie bei der Pointe ihren Muskeltonus. Das kann so weit gehen, dass sie zu Boden sinken, bei vollem Bewusstsein. Das ist fürchterlich! Es hält die Patienten davon ab, ein normales Sozialleben zu führen.

SPIEGEL: Wie haben Sie es geschafft, diesen Schlaf- oder besser Wachschalter im Gehirn zu finden, für dessen Entdeckung Sie jetzt den Breakthrough Prize bekommen haben?

Mignot: Ich hatte zunächst nach Medikamenten gegen Narkolepsie gesucht, aber dann gemerkt, dass ich so nicht die Ursache dieser Krankheit finden würde. Daraufhin beschloss ich, in narkoleptischen Hunden nach dem verantwortlichen Gen dafür zu suchen. Ich habe zehn Jahre dafür gebraucht, dieses Gen zu isolieren! Damals konnte man nicht einfach so Gene sequenzieren. Ich habe kaum Forschungsförderung bekommen, ältere Kollegen schauten auf mich herab. Und ich war oft auf Reisen durch die USA, wo immer mal wieder jemand einen narkoleptischen Hund diagnostiziert hatte, um Blutproben für die genetische Untersuchung zu nehmen.

SPIEGEL: Sie haben selbst einen …

Mignot: … ja, Watson (beugt sich herunter und nimmt den schwarz-weißen Chihuahua auf den Arm). Hier ist er! Ich nehme ihn manchmal mit in die Klinik. Die Narkolepsiepatienten, speziell die Kinder, freuen sich sehr über ihn.

SPIEGEL: In Hunden haben Sie dann ein für Narkolepsie verantwortliches Gen gefunden, bei Menschen aber nicht.

Mignot: Es war das Gen für den Rezeptor eines Moleküls, das gerade erst entdeckt worden war: Orexin. Es macht wach und reduziert Träume. Beim Menschen hingegen entsteht Narkolepsie als Autoimmunerkrankung. Das Immunsystem vernichtet nach einer Grippeinfektion die Zellen im Gehirn, die Orexin produzieren. Es ist so ähnlich wie bei Typ-1-Diabetes, wo die Zellen zerstört werden, die Insulin produzieren.

SPIEGEL: Haben Sie in den zehn schwierigen Jahren daran gedacht aufzugeben?

Mignot: Nein, da bin ich wie ein Hund mit einem Knochen: Wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, lasse ich nicht mehr davon ab. Und ich hatte ja auch Erfolg! Die Pharmaindustrie fördert Teile meiner Forschung, die Regierung einen Großteil, und heute gibt es Medikamente, die das Orexin ersetzen können.

SPIEGEL: Wirken sie wie Aufputschmittel?

Mignot: Nein, sie bilden eine ganz neue Klasse von Wirkstoffen. Und es ist phänomenal, Narkoleptiker können damit vielleicht wieder ein weitgehend normales Leben führen.

SPIEGEL: Im Moment befinden sich diese Medikamente noch in klinischen Studien. Würden sie auch Gesunde wachhalten können, etwa Politiker beim Verhandlungsmarathon?

Mignot: Absolut. Vielleicht können sie auch bei Depression helfen, bei ADHS, bei allem, was mit Gehirnzuständen zu tun hat, die mit Wachheit und Schlaf assoziiert sind. Ich bin sicher: Wir stehen am Beginn einer neuen Ära. Wobei wir natürlich darauf achten müssen, dass diese Wirkstoffe nicht missbräuchlich verwendet werden – auch wenn es bislang so aussieht, dass sie nicht süchtig machen.

SPIEGEL: Ist es für gesunde Menschen eigentlich nach wie vor eine gute Empfehlung, acht Stunden zu schlafen?

Mignot: Jeder benötigt eine unterschiedliche Menge Schlaf. Den Leuten eine pauschale Anweisung wie diese zu geben, ist sehr gefährlich, denn wer keine acht Stunden braucht, aber versucht, so lange zu schlafen, dem wird es nicht gelingen, er wird nervös deswegen, verkrampft, und gerät über kurz oder lang in die Schlaflosigkeit.

SPIEGEL: Brauchen Männer genauso viel Schlaf wie Frauen?

Mignot: Männer neigen dazu, mehr zu schlafen. Einer der Gründe ist, dass sie doppelt so häufig unter Schlafapnoe leiden. Ich weiß, wovon ich spreche – ich habe selbst Schlafapnoe, auch wenn ich nicht schnarche.

SPIEGEL: Wie haben Sie das entdeckt?

Mignot: Ich habe meinen Schlaf aufgezeichnet. So etwa zehnmal in der Stunde setzte der Atem aus. Zwei Drittel der Männer über 40 haben Schlafapnoe und erleben mehr als 15 Aussetzer pro Stunde; das ist der Wert, ab dem es klinisch als Krankheit gilt.

SPIEGEL: Dschingis Khan konnte sogar im Sattel auf seinem Pferd schlafen, heißt es, Leonardo da Vinci brauchte angeblich nur eineinhalb Stunden Schlaf, Napoleon vier, und Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel verhandelte einmal 35 Stunden am Stück. Ist ein geringes Schlafbedürfnis eine Eigenschaft erfolgreicher Menschen?

Mignot: Ich bin mir sicher, dass Merkel in diesen 35 Stunden müde war. Wenn man sie da herausgenommen und auf einen Stuhl gesetzt hätte, wäre sie in Sekunden eingeschlafen. Menschen in einem solchen Amt leben in einem permanenten Zustand des Schlafentzugs. Und was viele von ihnen gut können, ist einzuschlafen, sobald sie eine kleine Pause haben, also zum Beispiel im Flugzeug sitzen. Sie holen den Schlaf einfach nach. Aber das heißt nicht, dass sie in den langen Wachphasen nicht müde wären.

SPIEGEL: Laut der Nationalen Schlafstiftung in den USA liegt die optimale Schlafdauer für Teenager zwischen acht und zehn Stunden, doch abends finden sie erst spät in den Schlaf. Und morgens beginnt die Schule um acht Uhr. Eine gute Idee?

Mignot: Natürlich nicht. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich das Schlafverhalten um die Pubertät herum verändert. Wir alle werden abends noch mal munterer; das ist ein natürliches Phänomen der inneren Uhr. Bei Heranwachsenden scheint das ausgeprägter zu sein. Ihre Physiologie ist darauf ausgerichtet, sehr lange aufzubleiben und sehr spät aufzuwachen…

SPIEGEL: … wenn man sie lässt, auch gern erst gegen 13 Uhr.

Mignot: Ja, und eben weil das physiologisch begründet ist, sollten wir dem Rechnung tragen und den Schulbeginn verlegen.

SPIEGEL: Auch rund 80 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland leiden unter Schlafstörungen, darunter Schlafmangel, mit ähnlichen Wirkungen wie bei einem Alkoholrausch: Wer stark übermüdet ist, verhält sich irrational, ist leicht beeinflussbar, risikofreudig, unkonzentriert.

Mignot: Ich würde mir wünschen, dass Schlaf wie Sport gesehen wird: als etwas Gesundes. Zumal er auch die emotionale Gesundheit stark beeinflusst. Ich frage mich immer, wie viele Scheidungen sich auf Schlafmangel zurückführen lassen.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Mignot: Zwei Menschen haben schlecht geschlafen, sind schlecht gelaunt, und bumm!, dann kracht’s.

SPIEGEL: Gibt es genauere Erkenntnisse dazu?

Mignot: Leider nicht. Wäre aber interessant, das zu erforschen.

SPIEGEL: Helfen kleine Nickerchen zwischendurch?

Mignot: Kann ich nur empfehlen! Erhöht Ihre Produktivität.

SPIEGEL: Wie?

Mignot: Grob gesagt regulieren zwei Faktoren den Schlaf: Ihr zirkadianer Rythmus, also die innere Uhr, und Ihre Schlafschuld. Morgens sind Sie ausgeruht, Sie haben null Schlafschuld. Und eigentlich sollten Sie über den Tag immer müder werden, weil Sie ja immer länger wach sind. Da kommt die innere Uhr ins Spiel: In der zweiten Tageshälfte steigt die Körpertemperatur, Sie werden wacher, obwohl Ihre Schlafschuld jetzt größer ist.

SPIEGEL: Wo bleibt da jetzt das Nickerchen?

Mignot: Bevor die innere Uhr Sie wieder aufputscht, haben Sie in der Mitte des Tages die Gelegenheit für einen herrlichen Schlummer. Viele Tiere nutzen diese Chance auf eine Siesta, auch viele Affen.

SPIEGEL: Um die Schlafschuld zu tilgen?

Mignot: Genau. Nachts passiert das Gleiche, nur umgekehrt: Zunächst zahlen Sie Ihre Schlafschuld ab, aber nach ein paar Stunden sind Sie ausgeruht und könnten eigentlich aufwachen. Unterdessen senkt aber die zirkadiane Uhr Ihre Körpertemperatur, Sie schlafen weiter.

SPIEGEL: Und analog zum Mittagsschlaf könnten wir nachts eine Art Wachstündchen einlegen?

Mignot: Ja, Sie würden Ihrer Natur folgen.

SPIEGEL: Schlaf-Tracking ist Mode, in App-Stores sind Dutzende von Anwendungen zu finden. Ist das nur Geldmacherei?

Mignot: Einerseits sind die meisten Tracker schlecht darin, wirklich den Schlaf zu messen, weil sie schon das Stillliegen im Bett mit einrechnen. Andererseits können sie dazu führen, dass die Leute bewusster darauf achten, wie gut und wie regelmäßig sie schlafen. Für uns Schlafmediziner ist es auch nicht schlecht, einigermaßen objektive Daten von unseren Patienten zu bekommen.

SPIEGEL: Träume entziehen sich weitgehend objektiver Wissenschaft. Und doch glaubten Menschen immer schon, tiefe Wahrheiten in ihnen zu finden, Psychologen sehen darin eine Tür zur Seele, und Hirnforscher erhoffen Antworten auf Fragen zum menschlichen Bewusstsein. Wie schauen Sie auf Träume?

Mignot: Ich glaube, es stimmt schon, dass sie etwas Magisches haben. In manchen Kulturen werden Schamanen danach ausgewählt, wie intensiv sie ihre Träume erleben, ob sie außersinnliche Wahrnehmungen dabei haben. Die Beschreibungen ähneln den Berichten von Narkoleptikern – man kann sich gut vorstellen, dass solche eindrucksvollen Träume sich anfühlten, als öffne sich die Tür zu einer anderen Welt.

SPIEGEL: Ist es sinnvoll, Träume zu deuten? Sind sie nicht das Produkt zufällig durcheinander feuernder Neuronen?

Mignot: Ich glaube, Träume spiegeln durchaus unser Bewusstsein wider. Das Gehirn wird aktiviert, aber viel zufälliger als im Wachzustand. Dieses zufällige Feuern aktiviert vielleicht Dinge, die tiefer im Bewusstsein oder der Gehirnstruktur liegen. Und es spult sicher eine Menge Dinge ab, die wir im Laufe des Tages erlebt haben. Wenn Sie ein bisschen darüber nachdenken, wird schon klar, welche Ängste Sie mit sich herumtragen, was Sie beschäftigt.

SPIEGEL: Sie haben die Ursache der Narkolepsie gefunden, Ihr Lebensziel. Was machen Sie jetzt?

Mignot: In Rente gehen (lacht). Nein, natürlich nicht! Ich will herausfinden, warum bei manchen Menschen die Immunreaktion bei Grippe aus dem Ruder läuft und zu Narkolepsie führt.

SPIEGEL: Und wovon träumen Sie?

Mignot: Eigentlich nur davon, so weitermachen zu können. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben und meiner Forschung.

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