Christian Stöcker

Impfgegner Tödliche Dummheit

Erstmals seit Jahren nehmen die Maserninfektionen weltweit wieder zu. Noch immer tötet die Krankheit mehr als 100.000 Menschen pro Jahr, obwohl wir sie ausrotten könnten. Mitschuldig: Google und Facebook.
Kind mit Mundschutz (Symbolbild)

Kind mit Mundschutz (Symbolbild)

Foto: Michael Haegele/ Getty Images

"'Meine Mutter hatte die Masern und ist auch nicht gestorben', hört man oft in Facebook-Gruppen. Das Problem ist nur: Wenn die eigene Mutter als Kind an den Masern gestorben ist, gibt es keine Nachkommen, die das dann auf Facebook posten können."
Christian Schiffer und Christian Alt, "Angela Merkel ist Hitlers Tochter - im Land der Verschwörungstheorien" (2018)

Es gibt Lebensformen, denen darf man ohne schlechtes Gewissen die Ausrottung wünschen. An den Pocken zum Beispiel ist 1978 zum letzten Mal ein Mensch gestorben. Die letzten Pockenviren werden in Hochsicherheitstrakten in den USA und Sibirien aufbewahrt.

Ausgerottet wurde die Krankheit mit einer Impfung. Ein Sieg der Menschheit über einen in etwa dreißig Prozent aller Erkrankungsfälle  tödlichen Gegner. Längst wird auf die Pockenimpfung verzichtet - wir brauchen sie nicht mehr.

Vermutlich hat keine andere Erfindung der Geschichte mehr Menschenleben gerettet als Impfungen . Viele Jahrzehnte lang waren Impfungen eine der wenigen konsistenten Erfolgsgeschichten. Das droht sich gerade zu ändern, dank Verschwörungstheoretikern, aggressiven Impfgegnern - und nicht zuletzt aufgrund versehentlicher Unterstützung durch Google, YouTube und Facebook.

Desinformation kann tödlich sein

In Europa galt auch Polio als ausgerottet, doch 2015 traten erstmals wieder zwei Fälle auf, und zwar in der Ukraine. Dort ist die Impfsituation katastrophal . Was nicht zuletzt daran liegt, dass sogar Medizinstudenten dort offenbar häufig an Verschwörungstheorien glauben statt an wissenschaftliche Fakten.

Die medizinische Fakultät der Brown University in Rhode Island betreibt ein Kooperationsprojekt mit ukrainischen Wissenschaftlern . In dessen Rahmen wurden 2015 Medizinstudentinnen und -studenten einer ukrainischen Universität nach Einstellungen zum Thema Impfung befragt. 60 Prozent der Befragten hingen dem zweifelsfrei widerlegten Irrglauben an, Impfungen verursachten Autismus . Desinformation kann tödlich sein.

Mutti und Vati haben aber ein komisches Gefühl

Die Ukraine ist auch das Land, in dem die Masern sich gerade wieder am schnellsten verbreiten. Unicef warnte am Freitag, in 98 Ländern habe es 2018 einen Anstieg der Infektionen  gegeben.

Die vermeintlich harmlose "Kinderkrankheit" tötete 2017 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge mindestens 110.000 Menschen , die meisten davon unter fünf Jahren. Die WHO schätzt, dass Masernimpfungen aufgrund der dramatischen Rückgänge der Erkrankungen allein zwischen 2000 und 2017 über 21 Millionen Todesfälle verhindert haben. 21 Millionen gerettete Leben! Und wir könnten sie ganz ausrotten, die Masern. Aber Mutti und Vati haben beim Thema Impfungen halt so ein komisches Gefühl.

Dass es hierzulande Leute gibt, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern eine Masernerkrankung ohne größere Folgeschäden überstanden haben ist ein unter Impfgegnern beliebtes Argument - aber angesichts dieser Zahlen offenkundig irrelevant. Außerdem sind private Anekdoten in Sachen Epidemiologie, siehe Eingangszitat, schlicht ohne jeden Belang.

Angst und Wut laufen besonders gut

All die "Impfkritiker", Verschwörungstheoretiker, Besserwisser und Esoteriker, die ihre Kinder nicht impfen lassen, sind Teil eines globalen Problems. Eines Problems, das durch hochorganisierte Gruppen und digitale Möglichkeiten der Desinformationsverbreitung massiv verstärkt wird. Wie motiviert und organisiert Impfgegner auch hierzulande sind, wird man schon bald im Forum unter dieser Kolumne nachlesen können. Die WHO betrachtet Impfgegner mittlerweile als globale Bedrohung.

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"Impfen ist Gift": Irreführende Algorithmen

Insbesondere Google, Facebook und YouTube sind aufgrund ihrer Sortier- und Selektionsmechanismen Nährboden und Verstärker für Anti-Impf-Verschwörungstheorien. Weil Inhalte, die Angst und Wut auslösen, dort besonders gut laufen.

Heimlicher Plan zur Ausrottung der Menschheit

Wenn man im März 2019 mit einem anonymen Browser und ohne Google-Login "Impfen ist" in ein Google-Suchfenster tippt, schlägt die Autocomplete-Funktion der Suchmaschine als erstes die Vervollständigung "Impfen ist Gift" vor. Folgt man dem Suchvorschlag, ist der erste Treffer eine Impfgegner-Seite voller Desinformation. Der zweite auch. Und der vierte und der fünfte.

In der Leiste mit Video-Ergebnissen erscheinen ausschließlich Clips mit extremen Anti-Impfungs-Verschwörungstheorien, gern religiös unterfüttert. In einem davon wird vor einem Plan zur Ausrottung der gesamten Menschheit gewarnt, von den angeblichen Tätern getarnt als Massenimpfung.

"Nazi-Pharma-Scharlatan"

Tippt man bei YouTube selbst "Impfungen" ins Suchfenster, lauten die ersten Ergänzungsvorschläge "Sinn oder Unsinn", "schützen nicht vor Krankheiten", "Angriff mit einer tödlichen Waffe" und "machen krank". Unter den ersten Treffern sind manchmal auch seriöse Informationen. Immer und grundsätzlich aber sind auch Anti-Impf-Clips dabei, manchmal ausschließlich solche. Und selbst wenn man sich ein korrekt informierendes Video ansieht, wird als Folgevideo, das automatisch losläuft, gerne eins aus der ganz anderen Richtung vorgeschlagen.

Diese Videos schüren Angst, und das sorgt bei YouTube eben für verlängerte Sehdauer, das wichtigste Optimierungsziel der Entwickler. Aufgrund medialen Drucks kündigte YouTube nun zumindest an, künftig keine Werbung mehr vor Videos zu schalten, die vor Impfungen warnen. Impfkritische Kanäle können dadurch kein Geld mehr auf der Videoplattform verdienen.

Bei Facebook organisieren sich die oft sehr aggressiven, überzeugten Impfgegner und machen anderen, die korrekt informieren, das Leben zur Hölle. Der "Guardian" zitierte diese Woche einen amerikanischen Naturheilpraktiker, der sich bei einer Kongressanhörung für Impfungen ausgesprochen hatte . Auf Facebook sei der Mann anschließend in einem augenscheinlich konzertierten Angriff als "Pädophiler", "Nazi-Pharma-Scharlatan" und "Drecksack, der für Kindsmord wirbt" beschimpft worden.

Miserabel justierte Sortiersysteme

Sucht man bei Facebook nach "Impfung", findet man praktisch nur Gruppen und Seiten voller Anti-Impf-Desinformation , und zwar weltweit. Kürzlich twitterte der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Abgeordnetenhaus voller Entsetzen einen entsprechenden Screenshot .

Die Menschheit bewegt sich gerade, gegen alle Evidenz und Vernunft, in eine Richtung, die unweigerlich zu mehr Todesopfern und Leid durch Infektionskrankheiten führen wird. Und die größten Aufmerksamkeitsverteiler des Planeten helfen, dank ihrer miserabel justierten Sortiersysteme, kräftig mit.

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