Protest von Medizinern Neue EU-Regeln für Pillentests gefährden Patienten

Ethik-Prüfung bei Tests am Menschen: "Lüge, dass Patientensicherheit gewahrt bleibt"
Foto: CorbisBernd Mühlbauer ist sicher niemand, der etwas gegen einheitliche Regeln bei der Durchführung klinischer Studien einzuwenden hätte. Der Bremer Forscher startete 2009 einen Arzneimitteltest, den es in dieser Form in Deutschland noch nie gab. Um herauszufinden, welches von zwei patentgeschützten Medikamenten besser gegen eine besonders heimtückische Form der Altersblindheit hilft, legt er sich gleich mit zwei ganz Großen der Pharmabranche an - den Schweizer Konzernen Roche und Novartis.
Doch nicht nur der erklärte Widerstand von Big Pharma, auch die zahlreichen Vorschriften zur Durchführung einer klinischen Studie kosteten Zeit. So konnte Mühlbauer erst zwei Jahre später als geplant mit seinen Tests starten. 2012 wird das Zwischenergebnis veröffentlicht, 2013 folgt das Endergebnis.
Patientensicherheit gewahrt? "Eine Lüge"
Einheitliche Regeln sind zu begrüßen, sagt Mühlbauer, aber der Vorschlag der EU-Kommission, wie Arzneimitteltests am Menschen in Zukunft EU-weit einheitlich geregelt werden sollen, sei eine Abkehr von allem, was in der Vergangenheit erstritten wurde. "Es ist eine Lüge, dass die Patientensicherheit gleich gewahrt bleibt", sagt der Pharmakologe, der Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (ÄKdA) ist.
Nicht nur die ÄKdA warnt eindringlich vor den Folgen der EU-Verordnung, auch der Marburger Bund und die Arbeitsgemeinschaft aller 52 Ethikkommissionen in Deutschland protestieren: Der Gemeinnutzen einer Studie darf nicht höher bewertet werden als die Sicherheit der Probanden.
Im Alltag in Deutschland funktioniert die Genehmigung von Arzneimitteltests am Menschen derzeit so: Eine Bundesbehörde prüft, ob der Arzneimittelhersteller in seiner Studie alle Regeln erfüllt: Sind alle Formulare korrekt ausgefüllt, ist alles angemeldet, stimmt die pharmazeutische Qualität der Prüfmedikamente, und entspricht der Prüfplan dem aktuellen Wissensstand?
Zusätzlich kommt eine Ethikkommission ins Spiel - die Experten bewerten, ob die die Studie ärztlich vertretbar ist, dazu die Qualität der Aufklärungsbögen für die Patienten, die Versicherung, die Qualifikation der Prüfärzte und die Eignung der Prüfzentren.
Wohl des Einzelnen geht vor
Wichtigster Punkt: Ist die Studie auch ärztlich vertretbar, also das Risiko für den Einzelnen vertretbar? Gibt es einen "Nutzen der Studie" auch für den einzelnen Studienteilnehmer? Anders ist es im neuen Entwurf der EU formuliert - hier steht weniger der potentielle Nutzen des Einzelnen im Mittelpunkt, stattdessen wird sozial-ethisch argumentiert: Das Risiko des Einzelnen darf nicht unvertretbar höher eingeschätzt werden als das normale Behandlungsrisiko, das ohne Studienteilnahme bestünde. Die Neuregelung habe gravierende Folgen, sagt Jörg Hasford von der Arbeitsgemeinschaft der Ethikkommissionen in Deutschland.
Der Grundsatz, jede klinische Studie vor Beginn von einer unabhängigen Ethikkommission bewerten zu lassen, habe sich bewährt. Auch deshalb habe es seit vielen Jahren in Deutschland keine größeren Katastrophen bei der Durchführung einer klinischen Studie gegeben. "Es muss daher als ein enormer Rückschritt bezeichnet werden, dass im Gesetzentwurf der Europäischen Kommission das Wort Ethikkommission gar nicht mehr genannt wird", sagt der Mediziner.
Dies könnte unter anderem zu einer erheblichen Vermehrung von Placebo-kontrollierten Studien führen, also von Studien, bei denen eine Gruppe der Patienten ein neues Medikament erhält, die Menschen der Kontrollgruppe nur ein Scheinmedikament - obwohl es eine zugelassene therapeutische Alternative zum Testpräparat gebe. So lässt sich zwar leichter die Wirkung einer Therapie ermitteln, einem Teil der Testteilnehmer werde dabei aber eine wirksame Behandlung verwehrt. "In Deutschland ging das bislang nicht so einfach", sagt Hasford. In den USA und England denkt man, ein wenig Sozialethik müsse eben sein. "Für das große Ganze müssen die Interessen einiger Patienten eben zurückstehen."
Neben dem Arbeitskreis der Ethikkommissionen formuliert auch Mühlbauer von der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft weitere Kritikpunkte:
- Zypern und Malta als Groß-Prüfbehörde? Durch die geplante Vereinheitlichung werde es theoretisch möglich, dass auch eine unerfahrene kleine nationale Behörde in der EU die Federführung für die Durchführung einer komplexen Studie bekäme. Deren Urteil gelte dann für alle Mitgliedstaaten. Das könne dazu führen, sagt Pharmakologe Mühlbauer, dass sich Pharmakonzerne gezielt die Behörden aussuchen, wo sie leichter eine Genehmigung für den Test bekommen.
- Weniger Schutz für Minderjährige: Die besonderen Regelungen für Kinder und Jugendliche in Studien würden deutlich hinter das jetzt erreichte Schutzniveau zurückgedreht. So sei die derzeit verpflichtende Mitbeteiligung einsichtsfähiger, aber noch minderjähriger Kinder am Einwilligungsverfahren nicht mehr vorgesehen.
- Die Fristen für Einwände seitens der Ethikkommissionen seien so knapp, dass es schon absurd ist, sagt Mühlbauer. So seien für manche Entscheidungsprozesse wenige Tage, dazu Kalendertage, vorgesehen. Dies mache jegliche inhaltliche Prüfung unmöglich, insbesondere für Ethikkommissionen, deren Mitglieder ausnahmslos ehrenamtlich arbeiteten.
In der EU-Kommission kann man die Kritik nicht nachvollziehen. "Patienten sollten weiterhin die neuesten Entwicklungen der klinischen Industrie offenstehen. Mit dem vorgelegten Vorschlag soll die Durchführung vereinheitlicht werden", betonte John Dalli, EU-Kommissar für Gesundheit, bereits bei der Vorstellung des Entwurfs. Tatsächlich gibt es derzeit 16 unterschiedliche Regelungen in der EU, ein einheitliches Verfahren vereinfachte Forschern also die Arbeit, wenn sie nicht mehr getrennt bei verschiedenen Stellen und Mitgliedstaaten weitgehend identische Informationen zu einer klinischen Studie vorlegen müssen. Das nutzt natürlich auch der Pharmaindustrie - der Vorwurf, die Kommission mache sich somit zum Handlanger der Konzerne, steht daher schon länger im Raum.
Doch auch bei Vertretern der Pharmaindustrie will man von einem Aufweichen der Studienauflagen zugunsten der Medizinindustrie nichts wissen: "Fakt ist, dass Firmen mit Studien, die ohne die Zustimmung der Ethikkommissionen stattgefunden haben, überhaupt nichts anfangen könnten", sagt Ralf Hömke, Sprecher des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA). Denn sowohl die europäische als auch die amerikanische Arzneimittelbehörde prüften bei jedem Zulassungsantrag, ob bei den eingereichten Studien alles mit rechten Dingen zuging. "Inklusive dem Vorliegen der Zustimmungen der Ethikkommissionen."
Es scheint, dass die EU-Kommission noch einiges nachbessern und klären muss in ihrem Entwurf -, der immerhin 2016 Gesetz werden soll. Am Mittwoch ist der Vorschlag zunächst Thema im Gesundheitsausschuss des Bundestags in Berlin . Eigentlich sollte der Entwurf durchgewunken werden - danach sieht es nun nicht mehr aus.