Systemkritik Wissenschaftselite beklagt zu viel Forschungsmüll

Forscherin vor Touchscreen: Gut wird Wissenschaft dann, wenn sie keinen Respekt vor Bestehendem hat
Foto: CorbisHamburg - Mit einem einzigartigen Spezial hat sich das Magazin "The Lancet" jetzt der Kritik vieler Wissenschaftler angenommen, im Forschungsbetrieb werde zu viel Unwichtiges produziert. Die Anreizsysteme von Forschungseinrichtungen und Instituten seien oft unsinnig, Geld werde verschleudert, Patienten geschädigt.
Es gebe ein starkes Gefühl unter Wissenschaftlern, darunter auch viele Nobelpreisträger, dass etwas falsch läuft in der Wissenschaft, schreiben Sabine Kleinert und Richard Horton in einem Kommentar, gleichsam der Auftakt zu fünf großen Analysen, in denen dargestellt wird, wie die Qualität in der Forschung verbessert und Verschwendung verringert werden kann. Das einzigartige Spezial "Inscreasing Value, Reducing Waste" ist im aktuellen "Lancet" veröffentlicht.
Furore statt Forschung
Es braucht in diesen Tagen vielleicht einen Nobelpreis, um den Wissenschaftsbetrieb wirksam kritisieren zu können: Randy Schekman, der 2013 zusammen mit James Rothman und Thomas Südhof den Preis in Medizin erhielt, hatte erst kürzlich die Auszeichnung für eine ungewöhnlich deutliche Attacke genutzt. "Die Tyrannei der Luxusmagazine muss gebrochen werden", sagte er in einem Interview mit dem "Guardian". Der Appell richtete sich gegen große Fachblätter wie "Science", "Nature" und "Cell".
Der Druck, in diesen Magazinen zu publizieren, verleite dazu, eher angesagter statt wirklich wichtiger Forschung nachzugehen. Die Chefredakteure seien "keine Wissenschaftler, sondern Fachleute, die Furore machenden Studien den Vorzug geben und dabei so restriktiv vorgehen wie Modedesigner bei Limited-Edition-Handtaschen", sagte Schekman. Er selbst und seine Kollegen würden ab sofort nicht mehr in diesen Journals veröffentlichen und riefen alle Forscher zum Boykott auf.
Der Biologe kritisierte auch das System des sogenannten Impact Factor, wonach die Qualität eines Journals daran bemessen wird, wie oft seine Veröffentlichungen zitiert werden: "Eine Arbeit kann zitiert werden, weil sie gut ist, oder aber weil sie provokativ, auffallend oder falsch ist", kritisierte Schekman.
Fehler im System
Peter Higgs, 2013 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet, erklärte, dass es ihm beinah unangenehm gegenüber seiner Universität in Edinburgh sei, wie wenige wissenschaftliche Artikel er in seiner Laufbahn geschrieben habe. In der heutigen Zeit hätte er kaum einen akademischen Job bekommen, sagte er dem "Guardian" . "Ich glaube nicht, dass man mich ich als produktiv genug ansehen würde."
Bereits 2009 hatten sich die Wissenschaftler Ian Chalmers und Paul Glasziou im "Lancet" mit diesem Thema beschäftigt. In ihrer Studie "Vermeidbarer Müll in der wissenschaftlichen Arbeit" kamen sie zu dem Ergebnis, dass 85 Prozent aller Investitionen in Forschung verschwendet werden. Dies sei eine "ungeheure Zahl", konstatiert Werner Bartens in der "Süddeutschen Zeitung".
Chalmers und Glasziou hatten moniert, dass Forscher die falschen Fragen stellen würden. Zudem seien Studiendesigns untauglich und es werde nicht geprüft, ob vergleichbare Untersuchungen bereits existierten. Oftmals würden Forschungsergebnisse auch nicht allen Wissenschaftlern zugänglich gemacht. Schuld ist nach Meinung von Chalmers und Glasziou nicht etwa der schlampig arbeitende Wissenschaftler, sondern das gesamte System.
Kritik übt auch Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, in einem Kommentar für SPIEGEL ONLINE. Vor bestehendem Wissen keinen Respekt zu haben, sei Merkmal hochwertiger Forschung. Die Realität zeige aber, dass die Welt von diesem Idealzustand erschreckend weit entfernt sei. Gerade Deutschland befände sich im Tiefschlaf.
Die wichtigsten Forderungen der Kritiker (Klicken Sie sich durch die multimediale Grafik):
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