Eingeschränkte Kontakte, längere Ferien Nationalakademie Leopoldina plädiert für »harten Lockdown«

Die Mitglieder der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben sich nach SPIEGEL-Informationen am Sonntag dazu entschlossen, einen erneuten, besonders dringenden Appell an die Politik zu veröffentlichen. Die in Halle residierende Gemeinschaft hatte die Politik in den vergangenen Monaten immer wieder zum Umgang mit der Corona-Pandemie beraten – diesmal ist die Entscheidung für eine Stellungnahme jedoch spontan am Wochenende gefallen, Hintergrund sind die beunruhigend hohen Fallzahlen.
Die Wissenschaftler wollen die »zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch verringern«, schreiben sie in ihrer Stellungnahme, die dem SPIEGEL vorliegt. In einem zweistufigen Verfahren soll zunächst die Schulpflicht ab 14. Dezember aufgehoben und die Bürger sollen »nachdrücklich« zur Arbeit im Homeoffice aufgefordert werden. Auch sollten »alle Gruppenaktivitäten im Bereich von Sport und Kultur eingestellt« werden.
In der zweiten Stufe ab Weihnachten sollte »bis mindestens 10. Januar 2021 in Deutschland das öffentliche Leben weitgehend ruhen«, also ein »verschärfter Lockdown« eingeführt werden. Dazu zählt die Leopoldina, dass alle Geschäfte bis auf diejenigen des täglichen Bedarfs schließen. Die Weihnachtsferien der Schulen sollten bis zum 10. Januar verlängert werden. Urlaubsreisen und größere Zusammenkünfte während der gesamten Zeit müssten vollständig unterbleiben. Ohne dies explizit zu erwähnen, dürfte die Leopoldina damit auch geplanten Gottesdiensten im Freien eine Absage erteilen.
Die Stellungnahme haben 28 Wissenschaftler unterzeichnet, darunter außer dem Charité-Virologen Christian Drosten und seiner Frankfurter Kollegin Sandra Ciesek auch Bildungsforscherin Ute Frevert oder Gesundheitspsychologin Jutta Mata von der Universität Mannheim. Bemerkenswert ist die Mitwirkung des Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, der sich als Leiter einer Bundesbehörde bislang zurückgehalten hatte. Der Chef des ifo-Instituts, Clemens Fuest, brachte gemeinsam mit Regina Riphahn von der Universität Erlangen-Nürnberg ökonomischen Sachverstand in die Runde ein.
Keine Besuchstournee an Weihnachten
Bund und Länder hatten auf ihrer vergangenen Konferenz bei Bundeskanzlerin Angela Merkel noch Lockerungen über Weihnachten verabredet. Davor warnt die Nationalakademie eindringlich. Vielmehr sollte die Weihnachtszeit dazu genutzt werden, die Fallzahlen drastisch herunterzubringen. Ohne die Gesamtzahl der bei einer Feier erlaubten Teilnehmer konkret zu nennen, sollten laut Leopoldina »Kontakte nur in einem sehr engen, auf wenige Personen begrenzten Familien- oder Freundeskreis« beschränkt stattfinden – gefolgt von einem entscheidenden Nachsatz: Diese Kontakte sollten über den »gesamten Zeitraum unverändert« bleiben. Das heißt, Besuchstourneen von Verwandten und Freunden über die Festtage sollten unterbleiben.
Die Forscher treibt die Sorge um, dass über die Weihnachtstage die ohnehin auf hohem Niveau weiter leicht ansteigenden Infektionszahlen durch die Festtagsfeiern schier explodieren. Intern rechnen sie im schlimmsten Falle mit 50.000 Neuinfektionen täglich ab Ende Januar, wenn es bei den von der Politik geplanten Lockerungen zu Weihnachten und Silvester und dem derzeitigen Kontaktniveau bleibt. »Die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel bergen mit ihren traditionell verstärkten und engen sozialen Kontakten große Risiken für eine weitere Verschlechterung der Infektionslage«, warnen die Leopoldina-Forscher.
Die Wissenschaftler argumentieren auch ökonomisch. Zwar erhöhten sich durch einen strengen Lockdown kurzfristig die Wertschöpfungsverluste, aber der Zeitraum, bis Lockerungen möglich werden, verkürze sich. Andernfalls drohe ein lascher Lockdown, der aber »für Monate« bestehen bleiben müsse, schreiben die Forscher in dem siebenseitigen Appell. »Dies würde neben ausfallender Wertschöpfung auch zu hoher Belastung der öffentlichen Haushalte führen, weil die geschlossenen Unternehmen Überbrückungshilfen benötigen«, heißt es in dem Text. Damit spielen die Experten auch auf den aktuellen Streit um Höhe und Art der Corona-Hilfen an.
Wissenschaftler kritisieren Ministerpräsidenten für lasche Haltung
Überhaupt gehen die Akademiker hart mit der Politik ins Gericht, zumindest wenn man zwischen den Zeilen liest. Sie fordern eine »langfristige politische Einigung auf ein klares, mehrstufiges und bundesweit einheitliches System von Regeln«. Damit kritisieren sie, dass sich die Ministerpräsidenten der Länder mit der Kanzlerin nicht auf konsequente Vorgaben geeinigt hätten.
Die Bundeskanzlerin hatte am Montag in der Unionsfraktion dafür geworben, weitere Verschärfungen auf einem Treffen der Länderchefs mit ihr noch vor Weihnachten zu beschließen. Dies lehnen einige Teilnehmer wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ab, wohingegen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und dessen saarländischer Amtskollege eindeutig dafür plädierten. »Durch ein einheitliches Vorgehen werden die Maßnahmen für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen transparent, verständlich und planbar«, argumentieren die Leopoldina-Forscher.
Die Leopoldina-Stellungnahme dürfte politische Wirkung entfalten, da bekannt ist, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel der Leopoldina große Wertschätzung entgegenbringt. Der Präsident der im Jahre 1652 gegründeten Gemeinschaft, der Mainzer Klimaforscher Gerald Haug, wird Merkel nach SPIEGEL-Informationen heute sprechen. Dabei soll es eigentlich um die Ausgestaltung der Impfkampagne gegen das Coronavirus gehen. Das Thema Lockdown dürfte dann aber auch auf der Tagesordnung stehen.