
Maschinelles Lernen Die KI-Revolution im Reagenzglas

"Stellen sie sich eine Zukunft vor, in der Menschen mit mehr Geld dank ihrer privilegierten Gene längere und gesündere Leben führen."
Die Genforscher Jennifer Doudna Samuel Sternberg in "A Crack in Creation" (2017)
Es gibt in diesen Tagen aus der Wissenschaft immer wieder Meldungen, deren Querverbindungen und Tragweite nicht gleich ersichtlich sind. Ein aktuelles Beispiel findet sich der jüngsten Ausgabe von "Nature".
Darin geht es um ein Protein namens Interleukin-2. Es verspricht - theoretisch - hochinteressante neue Möglichkeiten der Immuntherapie gegen bestimmte Krebsarten. Interleukin-2 hat aber einen großen Nachteil: Es ist, obwohl ein körpereigener Stoff, in größeren Mengen sehr giftig .
Stabiler, weniger schädlich, völlig anders aussehend
In dem "Nature"-Artikel berichten Daniel-Adriano Silva und über 20 Kolleginnen und Kollegen, wie sie eine Designer-Version von Interleukin-2 entwickelt haben, die diese unvorteilhaften Eigenschaften offenbar reduziert oder ganz zum Verschwinden bringt. Bei Mäusen ließen sich damit Darm- und Hautkrebs behandeln. Ein künstliches, einem körpereigenen Stoff nachempfundenes Protein, das in einigen Jahren womöglich in der Krebstherapie eingesetzt werden könnte, geschaffen im Labor, und zwar, jetzt kommt's: mit einem "komputationalen Ansatz".
Das Designerprotein wurde in einem aufwendigen iterativen Prozess abwechselnd am Rechner und physisch im Labor erzeugt. Am Ende sah es kaum noch so aus wie die Vorlage , hatte aber weniger schädliche Eigenschaften und war zudem noch stabiler als das Original.
Die Software, mit der das Protein-Ausrechnen umgesetzt wurde, heißt Rosetta, ihr Erfinder ist einer der Autoren des Artikels. David Baker von der University of Washington zählt zu den Pionieren dieser ziemlich neuen Disziplin, die man komputationale Biotechnologie nennen könnte: Analyse, Vorhersage, Gestaltung von Proteinstrukturen mithilfe komplexer Software. Oder, anders formuliert: Hier werden Bestandteile lebendiger Organismen am Rechner zerlegt, vorhergesagt, gedeutet und konstruiert.
Einmal einen lebenden Kranich falten
Rosetta ist in den vergangenen Jahren auch immer wieder im Kontext des CASP-Wettbewerbs eingesetzt worden, der hier vor einigen Wochen schon einmal Thema war: Darin geht es darum, welches Team am besten aus vorgegebenen DNA-Sequenzen dreidimensionale Proteinstrukturen vorhersagen kann. Eine Aufgabe, deren Komplexität Nerd-Cartoonist Randall Munroe einmal so erläutert hat : "Hast du schon einmal einen Kranich aus Papier gefaltet?" - "Ja" - "Dann stell dir jetzt vor, du müsstest herausfinden, welche Faltungen nötig sind, um einen echten, lebendigen Kranich herzustellen".
Beim jüngsten CASP-Wettbewerb gab es einen fachfremden Überraschungssieger. Das etwa zehnköpfige Team der Google- genauer Alphabet-Tochter Deepmind schlug die Creme dieser Disziplin, mit großem Abstand. Deepmind hat ein System namens AlphaFold entwickelt, das auf künstlichen neuronalen Netzen basiert. Der Technologie also, die uns gerade die rasanten Fortschritte im Bereich sogenannter künstlicher Intelligenz beschert.
Sinnkrise für Proteinfalter
Der Sieg von Deepmind stürzte so manchen Star der internationalen Proteinfalterszene in eine Sinnkrise, wie der Genetiker Mohammed Al-Quraishi in einem lesenswerten Blogeintrag berichtet. Zunächst hätten viele Kollegen befürchtet, Deepmind habe die Fachleute mit einem genialen neuen Ansatz abgehängt. Dann Erleichterung: Die Methode und das Werkzeug seien zwar neu, jedoch nicht der grundlegende Ansatz. Dann habe man begonnen, den Erfolg kleinzureden und auf die eingesetzten Ressourcen zurückzuführen.
Das erinnert mich ein bisschen an die Reaktionen von Profi-Go-Spielern auf den ersten Erfolg von Deepminds AlphaGo gegen den Europäischen Meister in dem Spiel: Na ja, so toll war das jetzt auch wieder nicht. Alles bloß Rechenleistung. Richtige Profis sind trotzdem besser. Was danach geschah, ist mittlerweile ja bekannt.
KI kann das jetzt
Das Deepmind-Team ist nicht die einzige Forschergruppe, die Methoden des maschinellen Lernens auf solche Aufgaben anwendet. Zweifellos hat die Google-Tochter im Zweifel mehr Geld und Rechenleistung zur Verfügung als universitäre Forscher. Die Quintessenz aus dem Ergebnis ist aber in meinen Augen eine andere: KI kann jetzt solche Dinge. Vergessen Sie Lautsprecher mit Spracherkennung und selbstfahrende Autos: Die womöglich drastischsten Veränderungen wird KI bald im Bereich Biotechnologie herbeiführen.
DNA ist Daten, Proteinstrukturen sind Daten. Die hier zu lösenden Probleme sind extrem komplex, es geht um multikausale, verwirrende Zusammenhänge, um Strukturen und Muster. Lauter Dinge also, mit denen die KI von heute und erst recht die von morgen gut umgehen kann. Lernende Systeme werden eben nicht gebaut und dann sind sie fertig - wenn man sie weitertrainiert und weiter an ihnen schraubt, werden sie auch weiterhin besser.
Eine wissenschaftliche Revolution, von der wir noch nicht zu träumen wagen
Dieses Zusammentreffen, Biotechnologie und maschinelles Lernen, wird in den kommenden Jahren vermutlich eine wissenschaftliche Revolution auslösen, von der wir noch gar nicht zu träumen wagen. Die Disziplinen, in denen diese Revolution stattfinden wird, sind selbst noch nicht so richtig darauf vorbereitet. Der in Harvard forschende Systembiologe Al-Quraishi schreibt: "Wettbewerbsfähig bezahlte Forschungsingenieure mit Expertise im Bereich Software und Informatik fehlen in akademischen Laboren fast vollständig, trotz der zentralen Rolle, die sie in industriellen Forschungslaboren spielen."
So kann es eben passieren, dass eine kleine Truppe von talentierten Außenseitern plötzlich die Führung in einer jahrzehntealten Forschungstradition übernimmt. Nicht nur die akademische Szene wurde davon überrascht, sondern offenbar auch die großen Pharmakonzerne - auch die scheinen, obwohl sie doch das nötige Geld hätten, in Sachen maschinelles Lernen als Forschungswerkzeug bislang zu schlafen.
Eine Maschine, die Menschen entwirft?
Das ändert sich vermutlich gerade. Pfizer, Merck, Novartis und Co. werden jetzt viele hochdotierte Jobs für KI-Fachleute ausschreiben. Aber die Deepmind-Leute werden nicht aufhören, an dieser prestigeträchtigen Sache weiterzuarbeiten.
Unternehmen und Universitäten werden bald anfangen, von oder wenigstens mit lernenden Maschinen entwickelte Designermoleküle herzustellen. Als nächstes werden Maschinen Vorschläge für gentherapeutische Eingriffe machen. Den Patienten, deren Leben damit gerettet oder verlängert werden kann, wird das sehr recht sein.
Und irgendwann kommt dann womöglich, aus einem geheimen Labor irgendwo auf dem Planeten, die erste Designer-DNA aus der Maschine.