Überschätzte Gesundheitsstudien Wer zu viel glaubt, bleibt dumm

Verführung durch Süßes: Die meisten Gesundheitsnachrichten haben einen Geburtsfehler
Foto: CorbisStellen Sie sich vor: Sie liegen auf dem Rücken auf einer Wiese und sehen den vorbeiziehenden Wolken zu. Es dauert nicht lange, bis Sie anfangen, Dinge zu sehen: Gesichter, Tiere, Gegenstände. Menschen können gar nicht anders, denn unsere Gehirne sind auf Mustererkennung perfektioniert. Darauf, Ähnliches zu erkennen, einzuordnen und so nach Zusammenhängen und Erklärungen zu suchen.
Der Drang ist so stark, dass wir im Alltag auch dort ständig Muster vermuten, wo nur der Zufall sein Spiel treibt. Wir brauchen Erklärungen. Wo es keine gibt, denken wir uns schnell eine aus.
Zum Schutz vor Trugschlüssen brauchen wir Wissenschaft: Sie stellt Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich ausgedachte Erklärungen überprüfen lassen. Doch zumindest in der Medizin gibt es ein wachsendes Ungleichgewicht: Das Hauptgeschäft medizinischer Studien ist nicht, Dinge zu überprüfen und zu beweisen. Die Fachwelt produziert vielmehr am laufenden Band Vermutungen, die nie geprüft werden. Die aber trotzdem immer wieder unser Leben beeinflussen, wenn sie Mehrheiten finden und Medien darüber berichten.
Schokolade macht mal dick, mal nicht
Die Schlagzeilen sind mal unterhaltsam, mal mit erhobenem Zeigefinger geschrieben: Schokolade macht doch nicht dick. Brokkoli schützt vor Brustkrebs, Kaffee vor Schlaganfall. Unbewiesene Vermutungen sind in vielen Medien besonders beliebt, wenn sie die kleineren und größeren Sünden des Alltags betreffen: Was wir essen oder trinken, wie wir uns verhalten, mit wem wir Sex haben.
Problematisch ist das, weil die meisten Gesundheitsnachrichten einen schwerwiegenden Geburtsfehler haben: Hinter den Meldungen steckt meist ein überschätzter Studientyp, die epidemiologische Beobachtungsstudie. Ihr haben wir einige wichtige Fortschritte der Menschheit zu verdanken: Die Methode wird seit dem 19. Jahrhundert eingesetzt, um zum Beispiel Ausbrüche von Infektionen wie Cholera einzukreisen - um dann Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Wozu man solche Studien heute noch braucht, hat zuletzt Ehec demonstriert. Das Prinzip ist einfach: Man befragt Kranke (Fälle) und Gesunde (Kontrollen), um so Unterschiede im Verhalten herauszufinden. Wer hat wann was gegessen? Doch Ehec hat auch die Schwäche solcher Studien gezeigt. Man kann mit ihnen Verdächtige einkreisen (Gurken, Tomaten), aber nicht den wahren Schuldigen überführen.
Trotzdem werden Studien ähnlicher Art jeden Tag massiv überschätzt: Forscher stellen Menschen auf die Waage und fragen sie, wie oft sie Schokolade gegessen haben. Dann teilen sie die Teilnehmer in Gruppen - zum Beispiel in Dicke und Dünne - und suchen nach Unterschieden in den Antworten. Wenn man nach genügend vielen Faktoren fragt, taucht fast immer irgendein Verhaltensunterschied zwischen den Gruppen auf, der dann nach allen Regeln der Statistik signifikant ist. Und trotzdem keine Bedeutung hat.
Der Zufall sorgt für die nötige Gleichmäßigkeit
Vitamine sind ein aktuelles Beispiel, wie solche Studien in die Irre führen können. Befragungen von Zehntausenden Männern und Frauen lieferten immer wieder das Ergebnis, dass diejenigen, die sich vitaminreich ernähren, seltener zum Beispiel an Krebs und Herzinfarkt erkranken. Auch wer Multivitaminpräparate einnahm, schnitt gesundheitlich besser ab. Doch der Unterschied liegt nicht an den Vitaminen, sondern daran, dass Männer und Frauen, die viele Vitamine zu sich nehmen, sich auch in anderen Eigenschaften von denen unterscheiden, die das nicht tun.
Um den Nutzen von Vitaminpräparaten zu beweisen, braucht man vergleichende Experimente. Auch hier werden zwei Gruppen von Menschen verglichen. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Teilnehmer per Los zugeteilt werden. Dieses Auslosen widerstrebt vielen. Doch es ist die bislang einzige (und einfachste) bekannte Methode, wie man zuverlässig dafür sorgen kann, dass sich die Gruppen nicht schon von Anfang an unterscheiden. Männer und Frauen, Junge und Alte, Kranke und Gesunde werden per Los fair auf beide Gruppen verteilt.
Und nicht nur dass: Der Zufall sorgt normalerweise auch dafür, dass alle Eigenschaften, die man den Freiwilligen nicht ansehen kann, ebenso gleichmäßig auf die Gruppen verteilt sind. Wenn dann die eine Gruppe Vitamine erhält und die andere nicht, kann man sich ziemlich sicher sein, dass gesundheitliche Unterschiede tatsächlich auf die Vitamine zurückzuführen sind. Bei allen anderen Faktoren gibt es ja dank dieser Randomisierung keinen Unterschied. Und in den Experimenten, die Vitaminpräparate so getestet haben, waren sie nutzlos - einige sogar eher schädlich.
Gute Experimente sind selten
Ohne solche randomisierten Experimente sind nur in Ausnahmefällen in der Medizin sichere Schlussfolgerungen möglich. Komischerweise haben diese Experimente ein Akzeptanzproblem. Das liegt vor allem daran, dass Ärzte und Patienten oft bereits zu früh an den Nutzen neuer Therapien glauben und dann eine Auslosung als Benachteiligung sehen. Hinzu kommt, dass diese Studien manchmal schwierig durchzuhalten sind. Gerade bei Aspekten des Lebensstils wie Ernährung und Bewegung lassen sich die Teilnehmer nur ungern auf längere Zeit darauf ein, ihre Gewohnheiten zu ändern. Forscher scheuen hier oft die Mühe, die ein gutes Experiment bedeuten würde.
Gute Experimente sind deshalb zu selten. Hier halten epidemiologische Studien dann als Ersatz her. Doch egal, wie gut die Gründe oder wie ehrenvoll die Absichten eines Forschers sind: Epidemiologische Studien können normalerweise keine Beweise liefern. Punkt.
Das wäre in Ordnung, wenn die Wissenschaftler selbst skeptisch blieben. Das tun sie aber allzu oft nicht. Forscher, die in ihren Zahlen entdecken, dass Schlanke häufiger Schokolade essen, reichen schnell einen Fachartikel bei einer der mehreren tausend Fachzeitschriften ein. Irgendeine druckt ihn schon. In dem Artikel findet sich zwar meist ein Absatz, dass "weitere Studien nötig" seien, um die Ergebnisse abzusichern. Doch diese Passage liest sich oft wie eine lästige Pflichtübung und geht gerne als Kleingedrucktes unter.
Wenn Medien diese Ergebnisse als Schlagzeile aufbereiten, geht allzu oft auch dieser letzte Rest an Skepsis über Bord: Aus der mehr oder weniger unsicheren Beobachtung, dass bestimmte Frauen mehr Brokkoli gegessen haben als andere, wird dann eine Kausalitätsaussage: Brokkoli schützt vor Brustkrebs.
Die Folge ist: Wir sind einem Rauschen von Gesundheitsnachrichten ausgesetzt, die fast alle nur auf Vermutungen beruhen, das aber nicht verdeutlichen. Seriöse Medien berichten zumindest, dass es lediglich um eine Beobachtung geht, von der niemand sicher weiß, ob das eine wirklich die Ursache des anderen ist - und nur eine Korrelation, ein zufälliges Zusammentreffen zweier Faktoren.