Geheime Pillentests in der DDR Mit 300.000 Euro beginnt die Aufarbeitung

Historiker an der Berliner Charité-Klinik starten ein erstes Forschungsprojekt zur Aufklärung der Arzneimittelversuche westlicher Pharmafirmen in der DDR. Das System der früheren Geschäftspraktiken soll analysiert werden, für Betroffene soll es zunächst keine Anlaufstelle geben.
Charité, Ostberlin (1984): Medikamententests westdeutscher Pharmaunternehmen in DDR-Kliniken sollen nun an der Berliner Charité untersucht werden.

Charité, Ostberlin (1984): Medikamententests westdeutscher Pharmaunternehmen in DDR-Kliniken sollen nun an der Berliner Charité untersucht werden.

Foto: dpa-Zentralbild/ picture alliance / dpa

Jahrelang hat die klamme DDR ihre Bürger verkauft - als Probanden für Medikamententests westlicher Pharmafirmen. Nach ersten Schätzungen haben West-Firmen in mehr als 50 DDR-Kliniken rund 600 Medikamentenstudien in Auftrag gegeben. Mehr als 50.000 Patienten sollen nach derzeitigen Erkenntnissen daran teilgenommen haben - teils möglicherweise ohne ihr Wissen.

Gesundheitsminister Daniel Bahr war das erste Mitglied der Bundesregierung, das nach Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes des Skandals im Mai Druck machte: Bei SPIEGEL ONLINE setzte er sich dafür ein, dass die Medikamententests westdeutscher Pharmakonzerne in der DDR rasch aufgeklärt werden.

Allerdings wird nicht sein Ministerium, sondern das des Inneren ein erstes Forschungsvorhaben finanzieren, offizieller Beginn ist der 15. Juni. Volker Hess, Medizinhistoriker an der Charité, will untersuchen, was zu DDR-Zeiten in den Kliniken im Osten und den westlichen Pharmafirmen passierte. Die Idee des Forschungsprojekts sei es, alle Beteiligten - also auch die Medikamentenhersteller - einzubinden, sagt Hess.

Für rund zweieinhalb Jahre ist das Forschungsvorhaben angesetzt, rund 300.000 Euro werden den Charité-Forschern dafür zur Verfügung gestellt. 70 Prozent kommen über das Bundesministerium des Inneren, genauer durch den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU). Den Rest stellen der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Bundesärztekammer und verschiedene Landesärztekammern.

Mit welchen Summen sich die einzelnen Verbände beteiligen werden, darüber machten weder Bergner noch Hess Angaben. Angesichts derart vieler Gruppierungen ist es kein besonders großer Betrag, den Hess erhält, doch der Medizinhistoriker ist zufrieden. Die Finanzierung reiche sicherlich nicht, um jede einzelne der über 600 klinischen Studien in der DDR, die durch westliche Pharmakonzerne durchgeführt wurden, zu untersuchen. Aber der erste Schritt, die systematische Analyse des Systems "Pharmalabor Ost", könne nun beginnen.

Die Einrichtung einer eigenen Ombudsstelle, an die sich betroffene DDR-Bürger wenden können, die auf Aufklärung ihrer Patientengeschichte hoffen, werde es erstmal nicht geben, sagt Bergner. Zunächst müsse das System verstanden werden. Die unzähligen Berichte und Hinweise der Menschen, die bereits sein Büro oder auch das des medizinischen Instituts erreicht haben, würden natürlich so lange aufbewahrt.

Spätere Konsequenzen schließt der Ostbeauftragte nicht aus. Bereits in früheren Interview hatte er erklärt, dass auch Entschädigungen möglich werden könnten. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Fälle, die jetzt Aufregung verursachen, im Einklang mit dem westdeutschen Recht gewesen sind", sagte er. "Experimente ohne Einwilligung der Betroffenen halte ich für skandalös."

Zunächst wollen der Ostbeauftragte und die Charité-Forscher nun aber mit Informationsveranstaltungen für Transparenz sorgen.

nik
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