Studie zu Covid, Impfungen und Hirnthrombosen Riskante Rechnung

Blutgerinnsel (Computerdarstellung)
Foto: Steve Gschmeissner / Science Photo Library / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Ein britisches Forschungsteam hat verglichen, wie häufig Blutgerinnsel im Hirn auftreten, nachdem jemand an Covid-19 erkrankt ist, eine Grippe hatte oder einen RNA-Impfstoff erhalten hat. Die Studie erregt Aufmerksamkeit, weil sie angeblich Erkenntnisse liefert, dass die bisher als unverdächtig geltenden Impfstoffe von Moderna und Pfizer das Risiko für Sinusvenenthrombosen (SVT) ebenfalls erhöhen könnten.
Bei den Präparaten von AstraZeneca und Johnson & Johnson – beides sind Vektorimpfstoffe – war es nach der Gabe in einzelnen Fällen zu SVT gekommen. Auch von Covid-19-Patienten sind SVT-Fälle bekannt. Die britische Studie ist bisher nur als Prepint verfügbar , also noch nicht wissenschaftlich begutachtet.
Den Forschern ging es um Folgendes: »Es gibt Sorge um einen möglichen Zusammenhang zwischen Impfstoffen und SVT, die Regierungen und Behörden dazu bewegen, bestimmte Impfstoffe einzuschränken«, sagt Studienleiter Paul Harrison, Professor für Psychiatrie, laut einer Mitteilung der Universität Oxford. »Aber eine Kernfrage blieb unbeantwortet: Wie hoch ist das Risiko einer Sinusvenenthrombose nach einer Covid-19-Diagnose?« Dies sollte aus seiner Sicht eine Rolle beim Abwägen von möglichem Nutzen und Schaden der Impfungen spielen.
Die Pressemitteilung zu der Studie erweckt den Eindruck, dass die RNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna ein ähnlich hohes Risiko für die seltene Komplikation mit sich bringen wie das Mittel von AstraZeneca. Es ist ein bei diesen beiden Mitteln bisher überhaupt nicht beobachtetes Phänomen, weshalb die Mitteilung für Verunsicherung sorgen könnte.
Was die Arbeit aussagt, wo ihre Grenzen liegen, und warum es tatsächlich keinen Anlass zur Sorge gibt – ein Überblick.
Was wurde untersucht?
Die Gruppe um Harrison hat digitale Gesundheitsdaten von Menschen ausgewertet, die entweder
die Diagnose einer Sars-CoV-2-Infektion erhalten hatten
an der Grippe (Influenza) erkrankt waren,
oder mit einem RNA-Impfstoff (Biontech oder Moderna) geimpft wurden.
Die zweite und dritte Gruppe sollte als Vergleich für die erste dienen. Der weit überwiegende Teil der ausgewerteten Daten stammt aus den USA. Weil der AstraZeneca-Impfstoff Vaxzevria dort bisher nicht zugelassen ist, war logischerweise keine Gruppe eingeschlossen, die diesen erhalten hatte.
Die Forschungsgruppe ermittelte anhand der Daten, wie viele Menschen im Zeitraum von zwei Wochen nach der Diagnose oder Impfung in den jeweiligen Gruppen eine Sinusvenenthrombose oder eine Thrombose der in der Leber liegenden Pfortader erlitten. Dass Covid-19 das Risiko von Thrombosen steigert, ist seit Monaten bekannt.
Außerdem schauten sie, wie viele Covid-19-Patientinnen und -Patienten einen Blutplättchenmangel entwickelten, eine sogenannte Thrombozytopenie. Und sie ermittelten, wie viele bis Mitte April verstorben waren.
Der Blick auf den Blutplättchenmangel erfolgte, weil im Zusammenhang mit den Sinusvenenhrombosen nach der Impfung mit AstraZeneca oder Johnson & Johnson dieser ebenfalls häufig auftrat. Erste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Blutgerinnsel infolge einer Autoimmunreaktion entstehen, bei der das Immunsystem zunächst die Blutplättchen aktiviert, wodurch sich Gerinnsel bilden.
Der Vollständigkeit halber: Andere Forscherinnen und Forscher der Universität Oxford haben den Impfstoff Vaxzevria mitentwickelt. Das in Deutschland als AstraZeneca bekannte Präparat wird in Großbritannien »der Oxford-Impfstoff« genannt. Dieser Hinweis soll die vorliegende Arbeit nicht diskreditieren, sondern nur diesen Zusammenhang offenlegen.
Die Ergebnisse im Überblick
20 von den rund 513.300 Menschen mit einer Covid-19-Diagnose erhielten laut den Informationen binnen zwei Wochen die Diagnose einer Sinusvenenthrombose, was umgerechnet 39 Fällen pro einer Million Menschen entspricht. Sechs der Fälle betrafen Menschen, die jünger als 30 waren. Die Forschungsgruppe entdeckte einen Fall, in dem die SVT mit einem Blutplättchenmangel einherging.
Keiner von den rund 172.700 Menschen mit einer Grippe erlitt eine SVT.
Die Gruppe berichtet von zwei Sinusvenenthrombosen im Zeitraum von zwei Wochen nach einer RNA-Impfung, ausgewertet haben sie die Daten von knapp 490.000 Menschen, das entspricht also gut vier Fällen pro einer Million Menschen.
Was an den Zahlen auffällt
In der Pressemitteilung heißt es: Das Risiko einer SVT sei durch Covid-19 etwa ums 100-Fache erhöht. Es sei zudem circa zehnmal höher als nach einer RNA-Impfung sowie rund achtmal höher als nach einer AstraZeneca-Impfung. Dies erweckt den Eindruck, dass die RNA-Impfstoffe nahezu die gleiche Gefahr einer SVT mit sich bringen wie AstraZeneca.
Die in der Studie berichteten vier Fälle von SVT pro einer Million mit einem RNA-Impfstoff geimpften Menschen – hochgerechnet aus zwei Fällen –, lassen aufhorchen. Aber in Wahrheit werden hier zwei Zahlen in Bezug gesetzt, die nicht vergleichbar sind.
Die einen stammen von der EU-Arzneimittelbehörde, also aus dem EU-Meldesystem für Nebenwirkungen, bei dem es eher zu einer Untererfassung kommt. Die anderen aus Patientendatensätzen, bei denen es auch eine Untererfassung geben kann, aber ebenso das Risiko einer Übererfassung besteht.
Bei Nebenwirkungsmeldungen kann man immer davon ausgehen, dass es eine Dunkelziffer gibt, also nicht jede mögliche Nebenwirkung auch gemeldet wird.
Bei großen Patienten-Datensätzen, die die Forschungsgruppe hier ausgewertet hat, kann es hingegen vorkommen, dass die ausgewerteten ICD-10-Codes, also die Krankheitsklassifizierungen, in seltenen Fällen fehlerhaft sind, weil sie falsch eingegeben wurden. (Hier können Sie erfahren, dass laut offizieller Statistik in Deutschland 26 Menschen an den Folgen von Schwerelosigkeit gestorben sind.)
Das US-amerikanische Advisory Committee on Immunization Pratices (ACIP), also das zuständige Gremium für Impfempfehlungen, hat aktuelle Daten zum Zusammenhang von Impfungen und SVT präsentiert .
Demnach wurden in den USA sechs Fälle gemeldet, in denen Frauen nach der Impfung mit Johnson & Johnson eine SVT samt Blutplättchenmangel entwickelten. Die zuständigen Behörden empfahlen deshalb, die Impfung mit dem Präparat auszusetzen.
Nach der Gabe von 97,9 Millionen Dosen Biontech sei kein einziger solcher Vorfall gemeldet worden. Nach der Gabe des Moderna-Präparats – 84,7 Millionen Dosen wurden gegeben –, gab es drei gemeldete SVT, allerdings alle mit normaler Blutplättchenzahl.
Sehr wahrscheinlich gibt es hier eine Dunkelziffer – aber wie hoch?
Einen Anhaltspunkt können die deutschen Daten liefern. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) berichtet nach der Gabe von rund 10,7 Millionen Dosen Comirnaty (Biontech), dass sieben Fälle von Sinusvenenthrombosen gemeldet wurden, keiner mit einhergehendem Blutplättchenmangel. Das entspricht 0,65 Fällen auf eine Million Dosen – allerdings ist hier nicht nur der Zeitraum von 14 Tagen nach der Impfung erfasst, und bei einigen Geimpften ist die Gabe noch keine 14 Tage her. Also lässt sich auch diese Zahl mit den oben genannten nur sehr eingeschränkt vergleichen.
Die Bewertung des PEI : »Die Zahl der gemeldeten Fälle ist unter Berücksichtigung der verimpften Dosen gegenüber der erwarteten Zahl von Sinusthrombosen nicht erhöht.« Denn solche Thrombosen kommen ja auch bei Menschen ohne Impfung in seltenen Fällen vor. Zur Erinnerung: Für den Impfstoff von AstraZeneca ist das PEI beziehungsweise die Ständige Impfkommission zu einem anderen Schluss gekommen.
Aus der Studie, die noch nicht von anderen Forschenden begutachtet ist, sollte man deshalb nicht ableiten, dass es offenbar auch bei den RNA-Impfstoffen ein Problem mit gefährlichen Thrombosen gibt. Das gibt sie nicht her.
Welches Risiko wiegt wie schwer?
Sie hätten zwei wichtige Erkenntnisse gewonnen, sagt Studienleiter Harrison von der Uni Oxford in seiner Arbeit: Erstens erhöhe Covid-19 das Risiko einer SVT deutlich, was die Liste der thrombotischen Probleme infolge der Infektion verlängere. Zweitens sei das Risiko durch Covid-19 höher als durch die verfügbaren Impfstoffe, auch für Menschen unter 30. Das solle man beim Abwägen von Nutzen und Risiken der Impfung in Erwägung ziehen.
Dass Patientinnen und Patienten mit Covid-19 eine Sinusvenenthrombose erleiden können, wurde bereits in mehreren Fachartikeln und Fallserien aufgegriffen (zum Beispiel hier , hier , hier und hier ).
Die Arbeit liefert nun aber, auf der Basis der digitalen Patientendaten, eine genauere Zahl. Demnach wäre das Risiko bei Covid-19-Erkrankten allerdings rund 100-mal höher als normal. Und es sei auch acht- bis zehnmal höher als nach einer Impfung.
Diese Risiken lassen sich allerdings nicht einfach so in Bezug setzen. Denn: Nicht alle Menschen, die heute noch nicht geimpft sind, erkranken unweigerlich an Covid-19. Wer in Neuseeland lebt, kann aktuell mit großer Sicherheit einer Infektion entgehen, in London oder Berlin sieht das anders aus, aber auch dort ist das Ansteckungsrisiko nicht bei 100 Prozent.
Gleichzeitig ist die SVT eine schwere, aber offensichtlich seltene Komplikation von Covid-19. Einer Krankheit, die auch ohne eine Hirnvenenthrombose dazu führen kann, dass Menschen ins Krankenhaus müssen, wochenlang auf der Intensivstation behandelt werden müssen, noch Monate später unter Kurzatmigkeit und Erschöpfung leiden – oder eben sterben. Das Risiko von Covid-19 also nur mit Blick auf diese seltene Ausprägung zu betrachten, unterschätzt die Erkrankung.
Ein dritter Punkt: Das Risiko, nach der Impfung mit AstraZeneca eine SVT zu entwickeln, ist nicht für alle gleich hoch. Aus eben diesem Grund hat sich die Ständige Impfkommission in Deutschland dafür entschieden, die Impfung Menschen ab 60 Jahren weiter uneingeschränkt zu empfehlen. Auch die jetzt in den USA aufgetretenen wenigen Fälle betrafen Frauen unter 50. Vor diesem Hintergrund ist ein Vergleich über Altersgruppen hinweg nicht aussagekräftig.
Und zuletzt sollte in der Diskussion über den Einsatz und die Einschränkung von Impfstoffen auch eine Rolle spielen, ob andere Impfstoffe verfügbar sind, deren Nutzen-Risiko-Profil im jeweiligen Fall besser ist.