Regenerative Medizin Netzhaut wächst aus Stammzellklumpen

Das Züchten von Gewebe oder ganzen Organen verspricht enorme Fortschritte in der Medizin, doch die Forschung steht erst am Anfang. Jetzt könnte japanischen Forschern ein Durchbruch gelungen sein: Sie haben aus Stammzellen eine Netzhaut wachsen lassen.
Augenbecher in Zellkultur: Das Netzhautgewebe leuchtet wegen eines Markerproteins grün

Augenbecher in Zellkultur: Das Netzhautgewebe leuchtet wegen eines Markerproteins grün

Foto: M. Eiraku/ Y.Sasai / RIKEN CDB

Die regenerative Medizin birgt große Versprechen: Aus den Zellen von Patienten könnten im Labor Gewebe oder ganze Organe gezüchtet werden, die als Ersatzteile dienen, falls die eigenen versagen. Kein jahrelanges und oft vergebliches Warten auf ein geeignetes Transplantat, keine Abstoßungsreaktionen. Allerdings befindet sich der Medizinzweig noch in seinen Anfängen, und bisher haben nur wenige Patienten tatsächlich davon profitiert - etwa durch das Implantieren eines Stücks Luftröhre oder einer im Labor gezüchteten Harnröhre.

Was japanische Forscher jetzt im Fachmagazin "Nature"  berichten, könnte ein Durchbruch beim Züchten komplexer Organstrukturen sein. Mototsugu Eiraku vom Riken-Center im japanischen Kobe und seine Kollegen brachten Stammzellen von Mäusen dazu, sogenannte Augenbecher zu bilden. Dabei handelt es sich um eine rudimentäre Struktur des Auges - bei der Entwicklung eines menschlichen Embryos sind die Augenbecher etwa ab der sechsten Woche sichtbar.

Im Inneren der Augenbecher entsteht die Netzhaut, auf der die Photorezeptoren sitzen - jene Stäbchen und Zapfen genannten Sinneszellen, die das Sehen ermöglichen. Außen bildet sich das sogenannte retinale Pigmentepithel (RPE), das später im Auge die Grenze zur Aderhaut bildet. Die Forscher schleusten ein grün fluoreszierendes Eiweiß in die Stammzellen ein, das nur in späteren Netzhautzellen leuchten konnte. Dadurch konnten sie die Entwicklung vom Zellhaufen zum Augenbecher besonders gut verfolgen.

Nach zehn Tagen fertige Augenbecher

Gesteuert haben die Forscher den Prozess allerdings kaum: Sie setzten die Zellen in speziellen Nährmedien auf eine Art Eiweiß-Gerüst. Das fördert nicht nur das Wachstum der Zellen, sondern auch die Entstehung spezialisierter Zelltypen. In diesem Fall formten sich aus Stammzellen Stäbchen und Zapfen, verschiedene Nervenfasern, RPE-Zellen und einige andere Zelltypen, die in der Netzhaut zu finden sind.

Am sechsten Tagen bildeten sich Bläschen aus den Zellen, an Tag sieben entstanden daraus kleine Halbkugeln. Sie stülpten sich in den kommenden drei Tagen wieder ein und veränderten sich weiter, so dass die typische zweischichtige Augenbecher-Struktur entstand. Die äußere Schicht, das retinale Pigmentepithel, produzierte Farbstoffe und verfärbte sich - das passiert auch normalerweise im Auge. Die Gebilde maßen insgesamt 200 bis 400 Mikrometer im Durchmesser - der Augenbecher der Maus ist 300 Mikrometer groß.

Die Netzhaut entwickelte sich in den kommenden Tagen stetig weiter, bis ihr mehrschichtiger Aufbau mit der Netzhaut, wie sie bei Neugeborenen vorliegt, vergleichbar war. Tests bestätigten nach Angaben der Forscher, dass sämtliche Zelltypen der Netzhaut in den Augenbechern zu finden waren. Allerdings fanden sich nur sehr wenige fürs Farbensehen zuständige Zapfen auf der Netzhaut.

Prozess nicht völlig entschlüsselt

Dass sich diese Strukturen ohne die normalerweise angrenzenden Gewebeschichten einfach in der Petrischale formten, erstaunt auch zwei Londoner Wissenschaftler, die die Studie in einem Begleitartikel in "Nature"  kommentieren. "Obwohl man jetzt in der Lage ist, Augenbecher aus embryonalen Stammzellen zu züchten, verstehen wir den zugrundeliegenden Prozess noch immer nicht vollständig", schreiben Robin Ali und Jane Snowden. Die neue Technik ermögliche allerdings, diese Entwicklung genauer zu studieren. Sie hoffen zudem, dass sich nun die Reaktion der Netzhaut auf Licht besser untersuchen lässt.

Bevor sich die Erkenntnisse in der praktischen Medizin nutzen lassen, ist noch einiges an Arbeit nötig. Bisher haben die Forscher nur Augenbecher aus Mäusezellen gezüchtet, nicht aber aus menschlichen Stammzellen. Falls dies gelingen sollte, hätten Mediziner ein wertvolles Modell, um Augenkrankheiten zu erforschen oder Medikamente zu testen, meinen Ali und Snowden.

Die Augenbecher könnten auch die regenerative Medizin voranbringen. Menschen, die durch den Verlust von Photorezeptoren ihr Augenlicht verloren haben, können es theoretisch durch das Implantieren von Sinneszellen zurückgewinnen. In Versuchen mit Mäusen wurde diese Methode bereits getestet. Das Problem sei allerdings, die Zellen im passenden Entwicklungsstadium in ausreichender Menge zu gewinnen, meinen Ali und Snowden. Lassen sich die Augenbecher effektiv heranzüchten, wären sie aber eine optimale Quelle für die wertvollen Zellen.

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